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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

Sonst wird von Wirtschaftshistorikern nur noch J. Kulischer einmal angeführt. Boissonade ist die Quelle. der wirtschaftsgeschichtlichen Informationen Borkenaus! Eine "mustergiltige Materialverarbeitung", durch welche alle anderen Arbeiten über die Entstehung des französischen Kapitalismus "veraltet" sein sollen! Veraltet sollen sein die Quellenarbeiten von Fagniez, E. Levasseur, Germain Martin, E. Tarlé, J. Godart, Henri Hauser, Henri Sée usw., von denen jeder viel tiefere Einblicke in das Wesen der historischen Prozesse gewährt als Boissonade!

In Wahrheit ist das Buch von Boissonade durchaus keine Revolution in der französischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Die ersten Ergebnisse seiner Forschungen hat Boissonade bereits 1899 vorgelegt, indem er damals 582 Manufakturen archivalisch belegte. E. Levasseur hat schon 1901 mit kritischer Ironie die Forschungsergebnisse Boissonades behandelt[1]. Seit dieser Zeit, in fast dreissigjähriger unermüdlicher Archivforschung, hat Boissonade die Zahl der bekannten Manufakturen bedeutend vergrössert. Aber unsere Kenntnisse über die Entstehung des Kapitalismus sind durch die Resultate seiner Spürtätigkeit nicht nur nicht vorangekommen, sondern eher noch verdunkelt worden. Seine Arbeit war infolge ihrer methodologischen Unzulänglichkeit und Unkenninis der kapitalistischen Betriebsformen bereits bei ihrem Erscheinen (1927) veraltet und unter den Resultaten der früheren französischen Forschungsergebnisse[2]. So erhebt z. B. J. Kulischer gegen Boissonade den Vorwurf, dass er das Verlagssystem als die erste kapitalistische Betriebsform übersehen und mit dem Handwerk verwechselt hat! Erst die Kritik von Tarlé habe hier klärend gewirkt. "Auch Sée betont in einer Reihe seiner Schriften, dass in Frankreich ebenso. wie in England dem industriellen Kapital das Handelskapital vorangeht, das die Produktion der Kleinmeister in seinen Händen zusammenzufassen sucht"[3].

9. Angesichts der zentralen Rolle, welche in der gedanklichen Konstruktion Borkenaus der Entstehung des Kapitalismus zukommt, haben wir im Vorhergehenden die Frage nach der Zeit seines ersten Aufkommens, das Geld- und Handelskapital als seine Träger, schliesslich das Verlagssystem als seine erste Betriebsform zu klären versucht. — Nun wäre denkbar, dass der Kapitalismus

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/21&oldid=- (Version vom 23.2.2023)
  1. E. Levasseur, Histoire des Classes Ouvrières... a. a. O., Bd. II, S. 239.
  2. Die Begrifisverwirrung Boissonades zeigt sich schon im Buchtitel, der die merkantilistische Regierungspolitik des 16. und 17. Jahrhunderts in Frankreich als "Le Socialisme d’État" bezeichnet.
  3. J. Kulischer, a. a. O., Bd. II, S. 110.