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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

Eine solche Genesis des Kapitalismus passt jedoch nicht in Borkenaus "strukturelles" Entwicklungsschema. Er sieht als unmittelbare Voraussetzung der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen mechanistischen Philosophie die Mechanik und als unmittelbare Bedingung der Mechanik die Entstehung der handwerklichen Arbeitszerlegung und quantitativer Arbeitsmethoden. Hier liegen nach ihm die Anfänge des Kapitalismus und nicht im 13. und 14. Jahrhundert. Der Grosskaufmann als Träger der kapitalistischen Entwicklung will schlecht in dieses Schema passen. Borkenau lässt den Kapitalismus nicht aus dem Geld- und Handelskapital, sondern aus dem Handwerk und durch Rationalisierung der handwerklichen Methoden im Wege der Arbeitszerlegung entstehen — und verlegt seinen Beginn mit einem Sprung über die Jahrhunderte hinweg in die zeitliche Nähe der mechanistischen Philosophie, in das Ende des 16. Jahrhunderts! "Es ist — so führt Borkenau aus — eine der wichtigsten Einsichten, die sich aus der Gesamtheit der M. Weberschen Forschungen ergeben, dass der Grundstock der manufakturellen Unternehmer, die zuerst kapitalistische Methoden systematisch in den Produktionsprozess eingeführt haben, nicht aus der Geld- und Handelsbourgeoisie, sondern aus hinaufkommenden Handwerkern hervorgeht" (S. 155). "Die neue manufakturelle Technik wird nicht von religiös indifferenten Geldkapitalisten, sondern von calvinischen aufstrebenden kleinen Leuten gemacht..." Sie entsteht "aus der Bemühung um. Rationalisierung des Handwerks" (S. 90). Der Manufaktur- Kapitalismus hat sich überall aus "gehobenen Handwerkerschichten und verbürgerlichten Adeligen rekrutiert“ (S. 157).

Borkenau bemerkt nicht, dass die Anschauungen Max Webers, auf die er sich beruft, über die Genesis des Kapitalismus in der erwähnten Diskussion erschüttert und überholt worden sind; ebensowenig, dass Weber selbst bezüglich seiner eigenen Theorie unsicher und schwankend wurde[1]. An anderer Stelle beruft sich Borkenau bezüglich der französischen Manufaktur auf Boissonade[2].

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/20&oldid=- (Version vom 23.2.2023)
  1. "Das okzidentale frühkapitalistische Verlagssystem hat sich nicht immer und nicht einmal in der Regel aus dem Handwerk entwickelt, sondern ist sehr oft neben dem Handwerk entstanden..." (M. Weber, Wirtschaftsgeschichte. München 1923, S. 145), — "Zusammenfassend muss man sich gegenwärtig halten, dass die Fabrik (Weber identifiziert die Fabrik mit der Manufaktur und kritisiert die Unterscheidung beider Begriffe durch die "frühere Wissenschaft, auch Karl Marx" — a. a. O.,S.149—H.G.) nicht aus dem Handwerk und nicht auf seine Kosten entstanden ist, sondern zunächst neben ihm. Sie hat sich vor allem auf neue Produktionsformen geworfen und neue Produkte, z. B. Baumwolle, Porzellan, Goldbrokat oder Surrogate, alles Produkte, die vom zünftigen Handwerk nicht hergestellt wurden" (a. a. O., S. 157).
  2. "Über die ganze Entwicklung der Manufaktur und des staatlich protektionierten Handels von Ludwig XI. — Ludwig XIII. orientiert jetzt umfassend: P.Boissonade, Le Socialisme d’État. Paris 1927. Theoretisch unzureichend, mangelhaft für die Geschichte der Produktionsverhältnisse, aber musterhaft in der Materialverarbeitung für die Geschichte der Produktivkräfte. Trotz der Mängel des Werkes sind nach dieser Neuerscheinung alle anderen Arbeiten über die Entstehung des französischen Kapitalismus veraltet" (S. 173).