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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

gelockert wurde. Der Träger dieser neuen revolutionären Entwicklung aber war naturgemäss nicht der zünftige Handwerker, sondern der Grosskaufmann, d. h. das Handels- und Wucherkapital. Denn durch das Geld- und Wuchergeschäft akkumulieren sich die ersten grösseren Kapitale in der Zirkulationssphäre, bevor sie ihre Anwendung in der Produktion finden können. "Der Wucher zentralisiert Geldvermögen, wo die Produktionsmittel zersplittert sind[1]. Der Grosskaufmann besass grössere Kapitalien und die Kenntnis der Bezugsquellen für Rohstoffe und der Absatzmärkte für fertige Waren, mit denen er seit jeher handelte. Er war gewohnt, Kreditgeschäfte zu machen, — kurz er verfügte über alle für die neue Betriebsform notwendigen Voraussetzungen. Diese wurde nicht mit einem Schlag geschaffen, sie hat sich vielmehr schrittweise im Verlaufe eines langen historischen Prozesses entwickelt. Indem der Grosskaufmann den Handwerkern, die anfangs direkt für den Konsumenten arbeiteten, die fertige Ware abkaufte, schnitt er sie langsam von ihrem Absatzmarkt ab, wodurch er sie von sich abhängig machte. Indem er den Handwerkern Geldvorschüsse gab und bald auch Rohstoffe zur Verarbeitung lieferte, wuchs die Abhängigkeit des Meisters noch mehr; — und schliesslich sank dieser trotz seiner formellen Unabhängigkeit zu einem Lohnarbeiter herab, ohne dass die handwerkliche Technik des Produktionsprozesses geändert worden wäre. Der Grosskaufmann beschäftigte in dieser Weise viele zerstreute, in ihren Häusern mit eigenen Werkzeugen arbeitende, formell selbständige, faktisch ganz von ihm abhängige Handwerker. Es entstand das: Verlagssystem, der erste kapitalistische, wenn auch dezentralisierte Grossbetrieb. Bei der relativen Kleinheit der Kapitalakkumulation war diese Betriebsform die zweckmässigste und rationellste, da der Unternehmer Kapitalauslagen für Fabrikgebäude, Beleuchtung, Beheizung, Steuern usw. sparte. In dieser Gestalt des Verlagssystems begegnen wir den ersten Anfängen der kapitalistischen Produktion in Italien im 14., in Flandern sogar schon im 13. Jahrhundert.

Die nächste Etappe in dem Prozess der Unterordnung der Produktion unter das Kapital bestand darin, dass der Grosskaufmann, der bisher nur der Organisator der von andern bewerkstelligten Produktion war, dazu überging, den Produktionsprozess unter die eigene Leitung zu nehmen. Aber auch diese Umwandlung geht schrittweise, in längeren Perioden vor sich. Zuerst beginnt der Grosskaufmann mit der Übernahme von einzelnen Prozessen der Fertigstellung, z. B. Färberei und Appretur, während die übrigen Prozesse (vom Spinnen bis zum Weben etwa) noch in der

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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/18&oldid=- (Version vom 20.2.2023)
  1. a.a. O., Bd. III/2, S. 136.