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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

erfuhr: Infolge der Verlagerung der Achse des Welthandels vom Mittelmeer an den atlantischen Ozean trat Italien in eine Periode der Rückbildung des Kapitalismus ein, — aus welchem Zersetzungsprozess die spezifischen Merkmale der geistigen Haltung der Spätrenaissance zu erkären seien.

Diese Auffassung war — nach dem Buche Borkenaus zu schliessen — offenbar unbegründet. Denn jene Verlagerung der Achse des Welthandels spielt in seinem Deutungsversuch der Renaissance keine Rolle; sie wird nicht einmal erwähnt. Er verfährt hierin vollkommen konsequent. Nachdem er versichert hat, dass das Italien der Renaissance es nur zum Geldkapitalismus gebracht habe und dass eine kapitalistische Produktion dort nicht bestand, kann es für ihn keinen Rückschlag industriekapitalistischer Entwicklung geben. Die Heranziehung des Phänomens der Revolution des Weltmarktes seit Ende des 15. Jahrhunderts zur Erklärung der materiellen und geistigen Situation der Renaissance hält er offenbar für überflüssig.

7. Ebenso neu wie hinsichtlich der Entwicklung Italiens ist die Auffassung von der Genesis der kapitalistischen Produktion in den übrigen westeuropäischen Ländern. Zunächst gilt dies für die Frage der anfänglichen Betriebsform der kapitalistischen Produktion. Borkenau übernimmt Sombarts missverständliche Interpretation der Marxschen Theorie, wonach dieser die Manufaktur als erste Stufe der kapitalistischen Betriebsform bezeichnet habe[1], und stellt sogar die These, dass "die Manufaktur die erste Periode kapitalistischer Industrie" sei, in das Zentrum seiner Konzeption und ihrer Begründung | Auch hier also lässt er 100 bis 150 Jahre kapitalistischer Entwicklung, die der Manufakturperiode vorausging, nämlich die Periode des hausindustriellen dezentralisierten Verlagssystems, ausser Betracht.

8. Nicht so neu wie die eben skizzierten Auffassungen — aber vielleicht noch interessanter — ist Borkenaus Theorie der Genesis des Kapitalismus nach der sachlichen Seite hin. Um diese Genesis ist seit Erscheinen des "Kapitals" ein theoretischer Streit entbrannt, an dem sich direkt oder indirekt W. Sombart, M. Weber, H, Sieveking, J. Strieder, G. von Below, Heynen, A. Doren, H. Pirenne, R. Davidsohn und viele andere beteiligt haben. Eine Grundfrage war folgende. Nach dem "Kapital" sind die Träger des entstehenden Kapitalismus nicht aus dem Handwerk hervorgegangen; ein solcher Ursprung wäre unmöglich gewesen. Diese Unmöglichkeit bezieht sich a) auf das für den kapitalistischen Betrieb nötige Kapital, b) auf die neuen technischen Verfahren,

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/16&oldid=- (Version vom 20.2.2023)
  1. W. Sombart, Der moderne Kapitalismus, 2. Aufl. 1917, Band II/2, S. 731.