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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

"So beginnt die neue Mechanik und das moderne wissenschaftliche Denken überhaupt mit dem bewunderungswerten Genius Leonardo da Vincis, welcher seiner Zeit in so unbegreiflicher Weise vorangeeilt war"[1]. Die Aufgabe besteht freilich darin, das "Unbegreifliche" begreifbar zu machen, d. h. die Erscheinung Leonardos nicht als ein "individuelles, abseits der historischen Entwicklung liegendes Phänomen" (Lasswitz) zu betrachten, sondern gerade aus der sozialen Entwicklung seiner Epoche verständlich zu machen.

Aber — und damit gelangen wir zu unserer entscheidenden Schlussfolgerung — will Borkenau dennoch die Bedeutung der Mechanik Leonardos nicht anerkennen, lehnt er den Standpunkt eines Venturi, Libri, Grothe, Duhem, G. Seailles und vieler anderer ab, die in Leonardo den Schöpfer der modernen Mechanik schon zu Ende des 15. Jahrhunderts erblicken, dann muss eine solche Ablehnung begründet werden. Indem er darauf verzichtet, verschweigt er das ganze Problem! In seinem Buche, in dem so viele untergeordnete Figuren der Renaissance behandelt werden, wird der Name Leonardo da Vincis nicht einmal genannt.

4. Ebenso umstürzend wie bezüglich des zeitlichen Anfanges und inhaltlichen Ursprunges der modernen Naturwissenschaft ist Borkenaus Auffassung der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Vorgänge, durch welche das Werden der modernen Naturwissenschaft und des mechanistischen Weltbildes bedingt ist. Wenn die Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsmethode erst im 16. Jahrhundert erfolgte, daher erst in dieser Zeit von der "kapitalistischen Ära" gesprochen werden darf, so sind die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise (und diese vor allem sind für die Aufklärung der Entstehung des bürgerlichen Weltbildes wichtig) viel älteren Datums. Gegenüber der Ansicht von Marx, dass in Italien "uns die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städten am Mittellmeer sporadisch entgegentreten[2], meint Borkenau, das Eindringen des Geldkapitals in die Produktionssphäre hätte nicht vor der Wende zum 17. Jahrhundert "zum ersten Male entscheidenden Erfolg" gehabt. Erst zu dieser Zeit beginne sonach die "erste Periode kapitalistischer Industrie, die Manufakturperiode". — Hier lässt Borkenau dreihundert Jahre kapitalistischer Entwicklung in Westeuropa unberücksichtigt.

5. Wo die kapitalistische Produktion stattfindet, ist die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Auflösung der ständisch-feudalen

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/14&oldid=- (Version vom 30.3.2023)
  1. K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik, Bd. II, S. 12.
  2. Das Kapital, 3. Ausg., Bd. I, S. 739, 740,