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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 1

Hierzu komme aber seit 1927 die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, mit der das Deutsche Reich etwas ins Hintertreffen geraten sei. Die besonderen Schwierigkeiten, unter denen Deutschland in diesen Jahren gelitten hat, werden wenigstens angedeutet. Ausführung dürfte man erwarten bei Vergleichung mit England.

Die Entwicklung in England und im britischen Reichvor und nach dem Kriege wird nunmehr ins Auge gefasst; auch die stetig fortschreitende Unabhängigkeit der Dominien und die dadurch bedingte Gefahr fur die Arbeit. Dazu die zunehmende Rivalität der Vereinigten Staaten, die zu gleicher Zeit Gläubiger der ganzen Welt wurden, nebst der steigenden Bedeutung Japans als Industriestaat. Andere Momente hemmten ferner die britische Ausfuhr von Industrieprodukten: die verminderte Kaufkraft der Abnehmer, der Ehrgeiz, die Lohnhöhe aufrechtzuerhalten (d. h. die Macht der Gewerkschaften), auch als die Preise auf dem Weltmarkt fielen, alle diese Momente mussten eine grosse Arbeitslosigkeit hervorrufen, wie sie tatsächlich bald nach dem Kriege sich entwickelt hat. Daraus ging nun eine energische Aktion des Staates hervor, anknüpfend an die alten Lloyd Georgeschen Gesetze, die sich an das deutsche Vorbild angeschlossen hatten. Nachdem das erste staatliche Versicherungsgesetz fur Grossbritannien nur auf zweieinviertel Millionen sich erstreckt hatte, ist der Kreis der Versicherten immer mehr erweitert worden, bis die Zahl durch die Gesetze und Verordnungen der Jahre 1920 bis 1925 auf rund 12 Millionen angewachsen ist. Bosse hebt besonders die Bedeutung des Komplexes von Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit hervor und den Kontrast gegen unsere Gesetzgebung, die zwar das Prinzip festgelegt, aber praktisch wenig geschaffen habe. Es ist das alte Lied, dass man den ungeheuren Schwierigkeiten wenig gerecht wird, unter denen das Deutsche Reich nicht nur infolge des Krieges, sondern erst recht infolge seiner Erschöpfung und seines erzwungenen Friedens gelitten hat. Wir meinen ja, dass wir diese Schwierigkeiten und Nöte laut genug in die Welt hinaus verkündet haben, aber der Ruf scheint kaum über die Grenzen des Reiches gedrungen zu sein. Auch das muss ertragen und sofern noch möglich verbessert werden. — An dritter Stelle erörtert unser Verfasser die grosse Umwälzung in Russland, wo allerdings mit dem Recht auf Arbeit bitterlich Ernst gemacht wurde, und zwar so, dass von vornherein die Pflicht zu arbeiten als Mittel für eine sozialistische Umstellung des ganzen wirtschaftlichen Lebens in die Umwälzung eingeschlossen war. Der Verfasser kommt aber zu dem Schluss, dass die bisherige Entwicklung in Russland gleichwohl das Recht auf Arbeit im dort gemeinten vollen Sinn als unrealisierbar erwiesen

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_1.pdf/76&oldid=- (Version vom 21.10.2022)