Seite:Zeitschrift für Sozialforschung - Jahrgang 3 - Heft 1.pdf/75

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

dem Regime der Kolonialgesellschaften gegeben hat, brachten Unruhe in die politische Öffentlichkeit. Wenn er einige Jahre früher, als er sich zum Anwalt der Invertierten machte, Anstoss gab, so drohte er nun, da er sich zum Anwalt der Schwarzen machte, Aufruhr zu erregen. Für ihn wie für die, die ihm folgten, haben die politischen Faktoren schliesslich den Anlass zur bestimmten Stellungnahme gegeben. Besondere Bedeutung kommt dabei, gerade für den Nachwuchs, dem Marokkokriege zu.

Es wären dem Surrealismus viele Anfeindungen, aus denen er im übrigen den denkbar grössten Nutzen gezogen hat, erspart geblieben, wäre sein Ursprung in der Tat eindeutig ein politischer gewesen: Nichts war weniger der Fall. Der Surrealismus ist im engen Raum eines literarischen Zirkels im Umkreis von Apollinaire gross geworden. In wie unscheinbarer, abseitiger Substanz der dialektische Kern, der sich im Surrealismus entfaltet hat, ursprünglich eingebettet lag, hat, 1924, Aragon in seiner "Vague de Reves" gezeigt. Damals brach die Bewegung in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle über ihre Stifter herein. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war wie Von Tritten massenhaft hin und wieder flutender Bilder; die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinander griffen, dass für den "Sinn" kein Spalt mehr übrig blieb. "Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen" — das war das eigentliche Unternehmen. Die dialektische Entwicklung der Bewegung aber vollzog sich nun darin, dass jener Bildraum, welchen sie sich auf so gewagte Weise erschlossen hatte, sich mehr und mehr mit dem der politischen Praxis identisch erwies. In diesen Raum verlegten jedenfalls die Angehörigen der Gruppe die Heimat einer klassenlosen Gesellschaft. Mag sein, dass die Verheissung einer solchen Gesellschaft ihnen weniger aus dem didaktischen Materialismus eines Plechanow und Bucharin gesprochen hat als aus einem anthropologischen, wie ihre eigenen Erfahrungen und frühere Lautréamonts und Rimbauds ihn enthielten. Wie dem auch sei, — diese Gedankenwelt schrieb der Aktion und Produktion der Gruppe, welche damals von Breton und Aragon geleitet wurde, die Gesetze vor, bis die politische Entwicklung ihr gestattete, sich einfacher, konkreter zu formulieren.

Seit Kriegsende sind die linken Intellektuellen, die revolutionären Künstler tonangebend für einen grossen Teil des Publikums gewesen. Es hat sich nun mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass dieser öffentlichen Geltung keine tiefere gesellschaftliche Wirksamkeit entsprach. Woraus das eine zu ersehen ist: dass — wie Berl

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/75&oldid=- (Version vom 19.8.2022)