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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Strömungen geltend machten, welche später über Expressionismus und Dadaismus in den Surrealismus gemündet sind. Gide hatte allen Anlass, in das Brevier der "Pages choisies", das er der Jugend Frankreichs zugedacht hat, die Seite der "Verliesse des Vatikan" aufzunehmen, in der Lafcadios Entschliessung zum Morde dargestellt wird. Gides jugendlicher Held befindet sich da auf der Eisenbahn und fühlt sich im Wagon belästigt durch die Hässlichkeit eines alten Herren, der neben ihm als einziger Fahrgast sitzt. Es kommt ihm der Gedanke, seiner sich zu entledigen.

"Wer sähe es, sagte er, — ganz nahe, in Reichweite der Hand, ist dieser doppelte Riegel, den ich leicht bewegen kann; die Tür, die dann mit einem Mal sich öfTnen würde, liese ihn vornüber fallen; ein kleiner Stoss würde genügen; er würde in die Nacht hinausfallen wie eine Masse; nicht einmal einen Schrei würde man hören... Es sind nicht so sehr die Begebenheiten, auf die ich neugierig bin; ich bin es auf mich selbst. Mancher glaubt sich zu allem fähig, und wenn er dann handeln soll, zuckt er zurück... Wie weit ist doch der Weg zwischen dem Vorsatz und der Tat. Und ein Recht zurückzunehmen, was man tat, hat man genau so wenig wie im Schach. Gleichviel, wenn man alle Gefahren wüsste, hätte das Spiel kein Interesse mehr."

Und langsam, kaltblütig zählt Lafcadio bis zehn, um sodann seinen Reisegefährten hinauszustossen, grundlos und nur aus Neugier seiner selbst. In den Surrealisten hat Lafcadio seine gelehrigsten Schüler gefunden. Begonnen haben sie wie er mit einer Reihe von "actions gratuites" — grundlosen oder beinah müssigen Skandalen. Die Entwicklung jedoch, die ihre Aktivität genommen hat, ist ganz geeignet, rückwärts auf die Gestalt Lafcadios Licht zu werfen. Denn immer mehr zeigten sie sich bestrebt, Auftritte, die zunächst vielleicht von ihnen nur spielerisch, aus Neugier ins Werk gesetzt worden waren, mit den Parolen der Internationale in Einklang zu bringen. Und könnte noch ein Zweifel an dem Sinn jenes extremen Individualismus bestehen, in dessen Zeichen Gides Werk begann, so hat er vor dessen letzten Bekenntnissen sein Recht verloren. Denn sie sprechen aus, auf welche Weise dieser ins Extrem gesteigerte Individualismus, indem er auf seine Umwelt die Probe machte, in den Kommunismus umschlagen musste.

"Was am Geist der Demokratie alles in allem am greifbarsten erscheint, ist, dass er asozial ist." Das hat nicht Gide geschrieben sondern Alain. Auf diesen Geist der Demokratie ist Gide erst spät gestossen; er war auch erst spät vorbereitet, ihn zu agnoszieren. Die Darstellungen, die er nach verschiedenen Reisen ins Innere Afrikas von den Lebensbedingungen der Eingeborenen unter

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/74&oldid=- (Version vom 19.8.2022)