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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Planung die Hauptrolle spielt." Die letzte Tugend des methodischen Prozesses, den Forschenden über sich hinaus zu führen, hat sich dabei an Valéry bewährt. Denn wer ist Monsieur Teste, wenn nicht das menschliche Subjekt, das schon bereit ist, die geschichtliche Schwelle zu überschreiten, jenseits von welcher das harmonisch durchgebildete, sich selbst genug tuende Individuum im Begriffe ist, sich in den Techniker und Spezialisten zu verwandeln, das bereit ist, an seinem Platze einer grossen Planung sich einzufügen? Diesen Gedanken einer Planung aus dem Bereich des Kunstwerks in den der menschlichen Gemeinschaft überzuführen, ist Valéry nicht gelungen. Die Schwelle ist nicht überschritten; der Intellekt bleibt ein privater, und das ist das melancholische Geheimnis des Herrn Teste. Zwei, drei Jahrzehnte vorher hat Lautréamont gesagt : "Die Poesie soll von allen gemacht werden. Nicht von einem." Diese Worte sind zu Herrn Teste nicht gedrungen.

Die Schwelle, die für Valéry nicht überschreitbar ist, hat Gide vor kurzem ~überschritten. Er hat sich dem Kommunismus angeschlossen. Für die Entwicklung der Probleme in der vorgeschrittensten Intelligenz Frankreichs, von der wir hier ein Bild zu geben suchen, ist das bezeichnend. Gide hat, so kann man sagen, keine ihrer Etappen in den letzten vierzig Jahren übergangen. Die erste hätte man etwa in der Kritik an Barrès' "Déracines" zu erblicken. Sie enthielt mehr als eine scharfe Ablehnung dieses Lobgesanges auf die Bodenständigkeit. Sie enthielt eine Umdeutung. Von den vier Hauptpersonen des Romans, an denen Barrès die Thesen seines Nationalismus exemplifiziert, kann Gide Interesse nur derjenigen entgegenbringen, die gesellschaftlich am tiefsten gesunken und zum Mörder geworden ist. "Wenn Racadot Lothringen nie verlassen hätte, sagt er, so wäre er nicht zum Mörder geworden; in dem Fall aber würde er mich überhaupt nicht interessieren." "Entwurzelt" zu sein. zwingt Racadot zur Originalität; das ist nach Gides Überzeugung der eigentliche Gegenstand des Buches. Im Zeichen der Originalität war es zunächst, dass Gide den ganzen Umkreis der Möglichkeiten auszuschöpfen suchte, die durch Anlage und Entwicklung in ihm lagen; und je befremdender sich diese Möglichkeiten erwiesen, desto rücksichtsloser war er bemüht, in seinem Leben — und zwar vor aller Augen — ihnen Platz zu schaffen. Selbstwidersprüche sind in dieser Haltung das Letzte gewesen, was ihn hätte beirren können. "Ich ging in jeder Richtung, sagt er, die ich einmal einschlug, bis zum äussersten, um sodann mit derselben Entschiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden zu können." Dies grundsätzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dies Bekenntnis zu den Extremen ist Dialektik, nicht als Methode eines Intellekts,

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/72&oldid=- (Version vom 11.8.2022)