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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Es sei erlaubt, der Spur dieses Verhaltens in seinem letzten Werke nachzugehen, und wäre es auch nur, weil dessen Vorwurf eine der grössten Konzeptionen des Dichters darstellt.

Der Held des Werks "Épaves" befindet sich zu Anfang des Geschehens auf einem einsamen abendlichen Spaziergang längs der Seinekais der Hauptstadt. An einer entlegenen Stelle in Passy wird er zum unfreiwilligen Zeugen eines Handgemenges, in welches eine alte Frau mit einem angetrunkenen Manne unten am Ufer geraten ist. Es ist eine ganz gewöhnliche Familienszene, "doch der Mann hatte getrunken, und offenbar fürchtete die Frau, von ihm in die Seine geworfen zu werden ". Und weiter : "Der Mann hielt sie am Arm und schüttelte sie hin und her, während er sie mit Beschimpfungen überhäufte. Aber sie lässt Philipp — so heisst der Held — nicht aus den Augen und ruft zu ihm hinauf : Mein Herr! Ihre Stimme war rauh und dabei so leise, dass er vor Schreck erstarrte. Er blieb ohne Bewegung." Und dann tritt er zurück. Er tritt den Heimweg an. "Er kam fast zur selben Zeit wie sonst nach Hause." — Das ist alles. Greens Buch entwiekelt nun, wie dies Ereignis in dem Mann zu arbeiten beginnt. Es führt ihn, wie der Dichter meint, zur Selbsterkenntnis, es nötigt ihn, seiner Feigheit ins Auge zu sehen, es zersetzt sein ganzes Leben, über das die Seine mehr und mehr eine geheimnisvolle Gewalt gewinnt. Er geht aber nicht ins Wasser. — Dieser Roman bietet — gerade weil ein Dichter wie Green ihn schrieb — ein unbarmherziges Beispiel dafür, wie der Konformismus eine grosse Konzeption vernichtet. Niemand wird leugnen wollen, dass der Fall, den Green zu Anfang seineS Buches darstellt, in unsern grossen Städten typisch ist. Niemand kann eben daher bestreiten, dass das, was er enthält und lehrt, kein Beitrag zum psychologischen Charakter dessen sein kann, der da den Ruf so ungehört verhallen lässt. Wohl aber ein Beitrag zu seinem sozialen Charakter. Denn jener unfreiwillige Zeuge, der sich abwendet, ist Bürger. Ein Streit unter zwei Bürgern nähme schwerlich auf offner Strasse diese Formen an. Was also Greens Helden lahm setzt, ist der Abgrund, der sich hier vor dem Bürger auftut, jenseits dessen zwei Angehörige der ausgestossenen Klasse ihren Streit austragen. Es ist kaum Sache der Kritik, Mutmassungen darüber anzustellen, wie der Dichter diesen verborgenen Sinn der Szene, der ihr eigentlicher ist, zu gestalten gehabt hätte. Der krasse Umstand, der hier kurzerhand dem Bürger die Augen über den Abgrund öffnet, der sein Klassendasein rings umgibt, — der gleiche krasse Umstand könnte ihn sehr wohl dem Wahnsinn ausliefern, welcher die Preisgegebenheit und Einsamkeit der eigenen Klasse zu der seiner privaten Existenz werden liesse. Die Ungewissheit über das

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/68&oldid=- (Version vom 9.8.2022)