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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

zur Linken trat er in den Weg, bezichtigte sie "Combescher Demagogie" und wechselte das Lager im Augenblick, als sich die Sieger gegen die religiösen Orden wendeten. Vorm Forum der Geschichte· hat darum nicht Péguy, sondern Zola das Zeugnis der Intellektuellen im Dreyfusprozess abgegeben.

Nicht nur an dieser Stelle gibt noch heute Zola den Masstab ab, an welchem das Erreichte zu bewerten ist. Ganz besonders gilt dies für einen grossen Teil der Belletristik. Bekanntlich ist es nicht eine unmittelbar politische Theorie, auf die das Werk Zolas sich gründet. Doch ist es eine Theorie im vollen Sinn des Worts, insofern der Naturalismus nicht nur den Gegenstand der zolaschen Romane und ihre Form, sondern auch einige der Grundgedanken — wie den, die Erbmasse und die gesellschaftliche Entwicklung einer einzelnen Familie darzustellen — bestimmt hat. Dem gegenüber ist kennzeichnend für den sozialen Roman, dem heute nicht wenige linksgerichtete Autoren ihre Sympathien gewidmet haben, der Mangel jedes theoretischen Fundaments. Die Figuren des sogenannten roman populiste sind, wie ein wohlwollender Kritiker bemerkt hat, vor lauter Unpersönlichkeit und Schlichtheit denen der verflossenen volkstümlichen Feenstücke gleich geworden, und ihre Ausdrucksfähigkeit ist so bescheiden, dass sie das Gestammel dieser vergessenen marionettenähnlichen Gebilde zurückrufen. Es ist die alte und fatale Konfusion — zuerst taucht sie vielleicht bei Rousseau auf —, wonach das Innenleben der Enterbten und Geknechteten durch eine ganz besondere Simplizität sich auszeichnet, der man gern einen Einschlag ins Erbauliche verleiht. Von selbst versteht es sich, dass der Ertrag derartiger Bücher sehr dürftig bleibt. Der roman populiste ist in der Tat viel weniger ein Vorstoss der proletarischen als ein Rückzug der bürgerlichen Belletristik. Im übrigen entspricht das seinem Ursprung. Die Mode — wenn schon nicht der Gattungsname — geht auf Thérive, den heutigen Kritiker des "Temps" zurück. So gross aber der Eifer ist, mit dem er sich für die neue Richtung eingesetzt hat, so ist es doch an ihren Produkten — nicht zuletzt an seinen eigenen — spürbar, dass es sich hier um eine neue Form der alten philanthropischen Impulse handelt. Die einzige Chance für die Gattung liegt denn auch in jenen Gegenständen, die den Mangel an Einsicht und an Schulung auf der Seite des Autors halb und halb verdecken können. Es ist kein Zufall, dass der erste grosse Erfolg des Genres - Célines "Voyage an bout de la nuit"[1] — es mit dem Lumpenproletariat zu tun hat. So wenig wie der Lumpenproletarier Bewusstsein

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/65&oldid=- (Version vom 8.8.2022)
  1. Soeben auch in deutscher Übersetzung (bei Julius Kittl, M.-Ostrau) erschienen.