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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Krise zeigt der Autor genau so wenig Einsicht wie in die der Wissenschaften, die Erschütterung des Dogmas einer voraussetzungslosen Forschung. Und er scheint nicht zu sehen, wie die Verhaftung der Intelligenz an die politischen Vorurteile der Klassen und Völker nur ein meist unheilvoller, meist zu kurz gegriffener Versuch ist, aus den idealistischen Abstraktionen heraus und der Wirklichkeit wieder nah, ja, näher als je, auf den Leib zu rücken. Gewalttätig und krampfhaft fiel dann diese Bewegung freilich aus. Statt aber die ihr angemessene Gestalt zu suchen, sie rückgangig machen, den Literaten wieder der Klausur des utopischen Idealismus überantworten zu wollen, das verrät — darüber kann auch die Berufung auf die Ideale der Demokratie nicht täuschen — eine durchaus romantische Geistesverfassung. Benda hat sie noch kürzlich im "Discours à la Nation Européenne" bekundet, in dem er den geeinten Erdteil — dessen Wirtschaftsformen die alten geblieben sind — mit gewinnender Feder zeichnet :

Dieses Europa "wird mehr ein wissenschaftliches als ein literarisches, mehr ein intellektuelles als ein künstlerisches, mehr ein philosophisches als ein pittoreskes Europa sein. Und nicht wenige unter uns gibt es, denen es eine bittere Lehre sein wird. Denn wieviel anziehender als Gelehrte sind Dichter ! wieviel betörender als Denker sind Künstler ! Hier aber heisst es sich bescheiden : Europa wird seriös sein, oder es wird überhaupt nicht sein. Es wird sehr viel weniger kurzweilig sein als die Nationen, welche es ihrerseits schon weniger als die Provinzen gewesen sind. So heisst es wählen : entweder werden wir Europa zustande bringen, oder wir werden ewig Kinder bleiben. Die Nationen werden liebliche Clorinden gewesen sein ; in dem Gefühl, sinnliche, inbrünstig geliebte Wesen dargestellt zu haben, werden sie glücklich sein. Europa aber wird jener jungen Gelehrten aus dem dreizehnten Jahrhundert ähnlich sehen müssen, die an der Universität Bologna Mathematik dozierte und vor ihren Hörern verschleiert auftrat, um sie nicht durch ihre Schönheit zu verwirren".

Es ist nicht schwer, in diesem sehr utopischen Europa eine verwandelte und gleichsam überlebensgrosse Klosterzelle zu entdekken, in deren Abgeschiedenheit "die Geistigen" sich zurückziehen, um am Text eines Sermons zu weben, von dem Gedanken unangefochten, dass er, wenn überhaupt, so nur vor leeren Bänken wird verlesen werden. Darum lässt sich kaum etwas gegen Berl einwenden, wenn er sagt : „,Verrat der Geistigen' ? Denkt bei dem Worte 'Geistiger' Benda nicht eigentlich an den Pfaffen, der die Sorge für Seelen und für irdische Habe trägt ?... Spricht hier nicht Heimweh nach dem Kloster, nach den Benediktinern, ...ein Heimweh, das in der modernen Welt so stark ist ? Will man dem immer noch nachtrauern?"

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/62&oldid=- (Version vom 16.12.2022)