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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Frankreich war für den jungen Lagneau in jeder Hinsicht das Gegenteil einer Erbschaft, Der Philosoph musste mit zwanzig Jahren die Last für die Familie auf sich nehmen. Mit zwanzig Jahren aber tritt Barrés seine Erbschaft an, die ihm die Musse liess, den "Culte du Moi" zu schreiben.

Lagneau hat weniges an Schriften hinterlassen. In der Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte aber stellt er einen Wegweiser dar. Von diesem Lehrer sind zwei Schüler ausgegangen, zwei Intellektuelle, deren Werk den Umkreis der bürgerlichen Ideologie von Frankreich einigermassen vollkommen in sich fasst. Was Barrès' Werk für die Ideologien der Rechten geleistet hat, das tat der andere Schüler, Alain Chartier, für die der Linken. Alains politische Bekenntnisschrift, "Elements d'une doctrine radicale" — das heisst in diesem Fall einer Doktrin der radikalen Partei — stellen eine Art Vermächtnis von Jules Lagneau dar. Die Radikalen sind, was ihre Führung betrifft, eine Partei der Professoren und der Lehrer. Lagneau war ein sehr typischer Vertreter dieser Haltung : "Wir untersagen uns, so schreibt er, alles Haschen nach Popularität, jeden Ehrgeiz, etwas vorzustellen ; wir untersagen uns auch die geringste Unwahrhaftigkeit und, sei es durch Wort, sei es durch Schrift, irrige Vorstellungen über das, was möglich ist, zu schaffen oder zu unterhalten. "Er fügt hinzu : "Wir werden kein Vermögen thesaurieren : wir verzichten auf Ersparnisse, auf Vorsorge für uns und für die unsern : diese Tugend, an der wir sterben werden, bedarf keiner Empfehlung." Die Züge dieses Intellektuellen stellen — gleichviel wieweit sie dem Leben abgelauscht sein mögen — ein so bestimmtes und eingewurzeltes Ideal der biügerlichen Führerschichten in der "Republik der Professoren" dar, dass es nicht überflüssig ist, so scharf wie möglich sie zu beleuchten. Das mag durch einen Absatz von Jacques Chardonne geschehen, in welchem dieser Typ des bürgerlichen Intellektuellen sogar als Typ des kleinen Bürgers schlechtweg ausgegeben wird. Dass diese Schilderung sichtbar übertrieben und schablonisiert ist, macht sie an dieser Stelle nur brauchbarer.

„Der Bürger — es ist vom Kleinbürger im angegebenen Sinn die Rede — ist ein Künstler. Er ist ein kultiviertes Geschöpf, aber unabhängig genug von den Büchern, um seine eigenen Gedanken zu haben ; er hat, sei es aus Erfahrung, sei es aus der Nähe, hinreichend Reichtümer gekannt, um nicht mehr an sie zu denken, er ist von Grund auf gleichgültig gegen gleichgültige Dinge und für die Armut geschaffen wie kein anderer ; ohne Vorurteile und seien sie sehr edel, ohne Illusionen, ohne Hoffnung ; der erste, wenn es gilt, für andere Gerechtigkeit zu fordern, der erste, wenn es gilt, ihren Vollzug zu leiden ; auf Erden, wo er alles ausser seinem gerechten

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/59&oldid=- (Version vom 5.7.2022)