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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

erobert haben, keine grossen Ereignisse, sondern nur grossartige Schauspiele gibt". Je näher man in die Gedankenwelt des Mannes eintritt, desto enger erscheint ihre Verwandtschaft mit den Lehren, die die Gegenwart überall hervorbringt. Es ist der gleiche Nihilismus der Grundgesinnung, der gleiche Idealismus der Geste und der gleiche Konformismus, der die Resultante aus Nihilismus und Idealismus bildet. Wie nach La Rochefoucauld Erziehung nichts kann als einen Menschen lehren, wie er mit Anstand einen Pfirsich schält, so kommt derganze romantische und schliesslich auch politische Apparat, den Barrès in Bewegung setzt, um "den Kult der Erde und der Toten" zu propagieren, am Ende keinem höheren Zweck zugute, als aus "regellosen Empfindungen kultiviertere zu machen". Nirgends verleugnen diese kultivierten Empfindungen den Ursprung aus einem Aesthetentum, das nur die andere Seite des Nihilismus ist. Und wie heute der italienische Nationalismus aufs imperiale Rom, der deutsche auf das germanische Heidentum sich berufen, so glaubt Barrès die Stunde "der Versöhnung der besiegten Götter und der Heiligen" gekommen. Er will die reinen Quellen und die tiefen Wälder nicht minder als die Kathedralen Frankreichs retten, für welche er im Jahre 1914 in einer berühmten Schrift eingetreten ist : "Und um die Geistigkeit der Rasse aufrecht zu erhalten, fordere ich ein Bündnis zwischen dem katholischen Gefühl und dem Geist des Bodens."

Seine tiefstgehende Wirkung erreichte Barrès mit dem Roman "Les Déracinés", welcher die Schicksale von sieben Lothringern, die ihre Studien in Paris verfolgen, schildert. Über diesen Roman hat der Kritiker Thibaudet die aufschlussreiche Bemerkung gemacht :

"Wie von selbst geschieht es, dass vier aus dieser Gpuppe es zu etwas bringen und honette Leute bleiben : die nämlich, die Geld haben. Von jenen beiden aber, welche ein Stipendium bekommen, wird der eine ein Erpresser und der andere ein Mörder. Das ist kein Zufall. Barrès hat zu verstehen geben wollen, dass die grosse Bedingung der Ehrenhaftigkeit die Unabhängigkeit, das heisst Vermögen, ist"

Barrès' Philosophie ist eine Philosophie des Erben. Es trifft sich, dass der schwerwiegende Roman, in dem er sie gestaltet hat, in einer der Hauptfiguren eine Studie ist, welche Barrès nach einem seiner Lehrer, nach Jules Lagneau, gefertigt hat. Die beiden, die sich auch im Leben nicht verstanden, standen gesellschaftlich sich auf das schroffste gegenüber. Lagneau war wirklich ein Entwurzelter. Er stammte aus Metz ; seine Familie war, nachdem sie 1871 für Frankreich optiert hatte, zugrunde gerichtet worden.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/58&oldid=- (Version vom 4.7.2022)