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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers.
Von
Walter Benjamin.

Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach, lag unter der Presse ein Buch von Guillaume Apollinaire : "Le Poète assassiné." Man hat Apollinaire den Bellachini der Literatur genannt. Im Stile seines Schreibens und seines Daseins lagen alle Theorieen und Parolen, die damals fällig waren, bereit. Er holte sie aus seiner Existenz wie ein Zauberer aus dem Zylinderhut, was man gerade von ihm verlangt : Eierkuchen, Goldfische, Ballkleider, Taschenuhren. So lange dieser Mann lebte — am Tage des Waffenstillstandes ist er gestorben —, ist keine radikale, exzentrische Mode in Malerei oder Schrifttum erschienen, die er nicht geschaffen oder zumindest lanciert hätte. Mit Marinetti gab er, in seinen Anfängen, die Losungen des Futurismus aus ; dann propagierte er Dada ; die neue Malerei von Picasso bis zu Max Ernst ; zuletzt den Surrealismus, dem er den Namen schenkte. In der Erzählung, welche dem Novellenband "Der ermordete Dichter" den Titel gibt, veröffentlicht Apollinaire einen, natürlich apokryphen, Artikel, welcher "am 26. Januar jenes Jahres" in dem Journal "Die Stimme" in Adelaide, Australien, aus der Feder eines deutschen Chemikers erschienen sei. In diesem Artikel heisst es :

"Der wahre Ruhm hat die Dichtung verlassen, um sich der Wissenschaft, der Philosophie, der Akrobatik, der Philantropie, der Soziologie usw. zuzuwenden. Die Dichter sind heute zu nichts weiter gut, als Gelder zu beziehen, die sie im übrigen nicht verdienen, weil sie fast nicht arbeiten und die meisten unter ihnen (ausgenommen die Kabaretisten und einige andere) nicht das geringste Talent und infolgedessen nicht die geringste Entschuldigung haben. Was die halbwegs Begabten angeht, so sind sie noch schädlicher, weil sie nichts beziehen und an nichts Hand legen und jeder doch mehr Lärm als ein ganzes Regiment machen… All diese Leute haben keinerlei Existenzrecht mehr. Die Preise, die man ihnen verleiht, hat man den Arbeitern, den Erfindern, den Gelehrten, den Philosophen, den Akrobaten, den Philantropen, den Soziologen usw. gestohlen. Die Dichter müssen unbedingt verschwinden. Lykurg hatte sie aus der Republik vertrieben, man muss sie von der Erde vertreiben."

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/56&oldid=- (Version vom 13.1.2023)