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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Die Menschen wurden wertvoll und faul, d. h. sie überlegten es sich lange, ehe sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Die Gewinne der Unternehmer gingen zurück, die "Wirtschaft" verfiel. Man versuchte, den fehlenden ökonomischen Druck weitgehend durch Zwang zu ersetzen. Die ganze gesellschaftliche Struktur wird von diesem Bemühen aus bestimmt; es ergibt sich als Konsequenz das System des Merkantilismus. Leicht in diesem Sinne zu deuten ist z. B. die allgemein bekannte Tatsache, daß man bis dahin Soldaten in genügender Anzahl einfach durch die Werbetrommel zusammenbringen konnte, denn arbeitslose Proletarier strömten in hellen Haufen zusammen, wo sie eine Möglichkeit zur Fristung ihrer Existenz sahen. Nunmehr aber mußte man sie mit Gewalt und List pressen, weil sie überall anderwärts günstigere Bedingungen finden konnten als beim Militar. In dieser Situation dauernden Menschenmangels, wo jede Arbeitskraft kostbar war, ware es eineöOkonomisch "sinnlose" Grausamkeit gewesen, Verbrecher weiterhin zu vernichten. Die Freiheitsstrafe nimmt die Stelle der Leibes- und Lebensstrafen ein, "Humanitat" tritt an die Stelle der Grausamkeit; wo immer Richtstätten waren , werden jetzt Zuchthäuser errichtet . Diese Humanität war durchaus rentabel: "Was nutzet ein Dieb, der um 50 Gulden ist gehenket worden, sich oder diesem, dem er gestohlen, da er doch im Werkhaus in einem Jahr wohl viermal soviel verdienen kann?", fragt ein hervorragender Nationalökonom jener Zeit, der alte J. J. Becher[1].

Der humane Strafvollzug verlor seine Funktion in dem Augenblick, als die industrielle Revolution, die Freisetzung des Arbeiters durch die Maschine um die Wende des 18. Jahrhunderts den Arbeitermangel behob und die industrielle Reservearmee entstand. Die unteren Klassen verelendeten, sie unterboten sich auf dem Arbeitsmarkt, und Zwangsmaßnahmen verloren ihren Sinn. Die Zuchthäuser hörten auf zu rentieren. Bei hohen Löhnen hatten sie große Gewinne gebracht; wenn sich Arbeiter freiwillig für ein Existenzminimum anboten, lohnte es sich nicht mehr, die Kosten für Einsperrung und Bewachung aufzubringen. Nicht einmal für den einfachen Betrieb, die Erhaltung der Gebäude, den Unterhalt der Wärter und Gefangenen langte der Ertrag der Arbeit mehr aus. Das Zuchthaus versagte doppelt: wieder wie im Mittelalter schwoll

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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/75&oldid=- (Version vom 21.6.2022)
  1. Becher, Johann Joachim, Politischer Discurs. Von den eigentlichen Ursachen dess Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken. Frankfurt a. M. 1688, S. 245.