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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

deren wir uns heute erfreuen sollen. Sie übersehen, daß eine sehr lange, bald stockende, bald rückläufige Bewegung vorliegt. Dementsprechend sind sie oft recht freigiebig mit Lob fur die Zeiten, die ihre Theorie bestätigen, geizen aber auch nicht mit Tadel für Jahrhunderte, die sich nicht danach richten — ein Verfahren, durch das die Erkenntnis der Tatsachen nicht immer gefördert wird.

Es ist daher die Aufgabe gewesen, die Epochen der Kriminalgeschichte in ihrem Zusammenhang mit den Epochen der Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte des ökonomischen Kampfes der Klassen zu studieren und die zutage geförderten Zusammenhänge fur die Analyse des gegenwärtigen Strafwesens nutzbar zu machen. An dieser Stelle kann nur ein kurzer Überblick iiber die Resultate dieser Forschung gegeben werden, soweit es erforderlich ist, um den Gedankengang dieses Aufsatzes zu Ende zu führen. Alle Einzelheiten und alle Beweise sowie eine Reihe anderer kriminalsoziologischer Ergebnisse sind der oben erwähnten ausführlicheren Arbeit vorbehalten.


V.

In der Geschichte des Strafvollzuges folgen drei Epochen aufeinander, die durch das Vorwiegen ganz verschiedener Strafarten gekennzeichnet sind: Bußen und Geldstrafen sind praktisch die einzigen Strafmittel des früheren Mittelalters, sie werden im Spätmittelalter abgelöst durch ein System grausamer Leibes- und Lebensstrafen, das seinerseits im 17. Jahrhundert der Freiheitsstrafe Platz macht. Vergleicht man mit diesen Phasen der Kriminalgeschichte die Wandlungen in der Sozialgeschichte, so finden sichüuberraschende Zusammenhänge.

In dem Bußstrafensystem des frühen Mittelalters spiegeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse eines dünn besiedelten Bauernlandes mit vollkommener Genauigkeit wider. Die Möglichkeit der Ansiedlung auf freiem Boden verhinderte jeden starken sozialen Druck auf die Unterklassen und führte zu einer ziemlich gleichmäßigen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. So traten Delikte gegen das Eigentum stark in den Hintergrund, denn ein Bauer kann seinen Nachbarn schwerlich Dinge entwenden, die nicht eigene Arbeit mit viel geringerem seelischen Aufwand hätte beschaffen können. Es waren mehr die primitiven Regungen der Sexualität und des Hasses, die zu Delikten führten. Eine wirkliche Abschrekkung war in dieser Zeit nur die Furcht vor der drohenden privaten

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/73&oldid=- (Version vom 21.6.2022)