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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

ragt gewissermaßen als ein Überbleibsel in die Gegenwart herein. Durch den Wechsel des sozialen Geschehens ist es aber nicht etwa bedeutungslos geworden, sondern übt, obwohl es sich weitgehend den heutigen Aufgaben angepaßt hat, in seiner aus der Vergangenheit stammenden Gestalt tiefgreifende Wirkungen aus. Das muß demjenigen verschlossen bleiben, der das Strafwesen nur vom Standpunkt der Gegenwart zu begreifen versucht. Er wird Absichten in seine Institutionen hineindeuten müssen, die ihm unverständliche Einrichtungen rationell erklären sollen, aber in der Lage der Dinge nicht begründet sind. Das heißt aber, daß unsere ökonomische Theorie durch eine historische Analyse ergänzt werden muß, ohne die das gegenwärtige System der Verbrechensbekämpfung unverständlich ist. Diese Arbeit ist von den Rechtshistorikern bisher nicht geleistet worden. Die Rechtsgeschichte, wie sie im Augenblick betrieben wird, ist viel zu sehr ein Zweig der positiven Jurisprudenz, als daß sie imstande wäre, sie gesellschaftlich-historisch zu analysieren.

Die Geschichte des Strafwesens ist mehr als eine Geschichte der vermeintlichen Eigenentwicklung irgendwelcher rechtlichen "Institutionen". Sie ist die Geschichte der Beziehungen der "zwei Nationen", wie sie Disraeli nannte, aus denen sich die Völker zusammensetzen, der Reichen und der Armen. Die Beschränkung auf das unfruchtbare Einerlei der meist von den Rechtshistorikern gehüteten Schulbegriffe hemmt eine wahrhaft wissenschaftliche Erklärung aus der Verursachung der historisch wirksamen Kräfte oft mehr, als sie sie fördert. Und wenn sich Juristen über den juristischen Horizont erheben, so bearbeiten sie oft ihren Gegenstand in der Art eines sorgfältigen Kuriositätensammlers, ohne Kriterien zur Auswahl des Bedeutungsvollen, weil sie den uns überlieferten Aufzeichnungen folgen, die Chronisten aber Dinge aufgeschrieben haben, die ihnen wichtig und seltsam erschienen, also sicher nicht alltäglich waren, während uns gerade die alltägliche Lebensgewohnheit interessiert. Es ist wie mit den Berichten über Sensationsprozesse, die alle Zeitungen füllen, während sie doch wenig über die wirkliche Kriminalität der Massen sagen.

Häufig auch lassen sich die Rechtshistoriker statt von einer vorurteilslosen Anwendung sozialer Gesetze von der problematischen Konzeption eines kontinuierlichen Fortschritts in der Entwicklung der rechtlichen Institutionen leiten: von der barbarischen Grausamkeit zur Humanität jener relativ vollkommenen Rechtsordnung,

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/72&oldid=- (Version vom 15.6.2022)