fahren. Ich half treulich an der Verfertigung zweier neuen Kleider, vertrauete dem Alles versorgenden Gott und dankte dem Hause, dessen alter 74jähriger Wirth bald darauf starb. Mein erkenntliches Herz befahl mir, den Töchtern und der Witwe eine Art von Trauerlied zu singen; dies war ihnen ein angenehmes Geschenk. Sie begegneten mir nach etlichen Wochen, von einem sehr ansehnlichen Manne begleitet; ich machte der Gesellschaft meine Verbeugung, mit Scham auf der Stirn wegen des armseligen Aufzugs, in welchem sie mich sahen; des andern Tages rief eine von den Schwestern mir nach und sagte, ich möchte ihr zu dem Leichencarmen verhelfen, sie habe es verliehen, ohne es wiederzubekommen, und jetzt stritt’ ihr Bruder wegen der Unmöglichkeit, daß ein Weib von so schlechtem Ansehen Verse machen könnte. Ich ging zurück in meine schwarzbalkige Wohnung und schrieb aus meinem Kopf das Gedicht, nebst einigen Versen an den Sohn des Verstorbenen. Dieser war Obereinnehmer in einer Stadt zwischen Berlin und Magdeburg und war nur gekommen, seine Familie zu trösten. Ich brachte ihm mein Geschriebenes; er war staunend, gab mir ein kleines Geschenk, hieß mich den Sonntag wiederkommen und ermahnte mich, mein Talent nicht vergraben zu lassen. Ich erschien mit ebenso niedergeschlagenen Augen als beim ersten Begegnen. Er hatte seinen alten Freund, den Rector Ribow, bei sich, beide vereinigten ihre Ermahnungen; ich schützte Dürftigkeit vor, empfahl mich, ging in ein Nachbarhaus und brachte nach Verlauf einer Stunde ein bogenlanges Gedicht, über die Mühseligkeiten eines Schulmannes. Bald hätten mich diese Männer eine Zauberin genannt, so bestürzt saßen sie da; der Rector hieß mich in sein Haus kommen und gab mir schöne Bücher. Ich las den Günther, den v. Besser, den v. Haller, Gellert und die 5 ersten Gesänge der „Messiade“. Sein College beschenkte mich mit den „Nachtgedanken“ des tiefsinnigen Engländers und mit seinen Gesängen vom jüngsten Tage. Diese Bücher machten meine Bibliothek aus; der Rector empfahl mich zween ansehnlichen Häusern: Greifenhagen und Neugebauer; schätzbare Namen für mich! möchten sie meinen öffentlichen Dank hören! Sie verachteten nicht, meine Lieder anzunehmen, obgleich eins von diesen Erstlingen mich jüngst über mich selbst lachen gemacht hat. Meine Umstände wurden jetzt weniger erbärmlich, als ich die Nachricht von dem Tode meiner Mutter erhielt; sie bat auf ihrem Sterbebette den Himmel, daß er mich aus dem Labyrinth führen möchte, in welches ich auf ihr Rathgeben gegangen war. Warum ließ er sie nicht leben nach diesem Gebete, um alle Wunder zu sehen, die seine Hand an mir gethan hat? Ich ergriff jede Gelegenheit, Verse zu machen. Das Lob und noch etwas mehr als Lob machten mein Genie hervordrängend; doch immer noch etwas schwach. Noch hatte ich keine von meinen Geburten aus der Presse kommen sehen; nun aber, o stellen Sie sich meinen aufschwellenden Autorstolz vor! Ein junger Postmeister in Lissa verheirathete sich, er ward mein Bewunderer; ich sang seinem Bunde ein Lied, und er sandte mir dieses Lied gedruckt zurück unter Begleitung eines sehr lobsprechenden Briefchens. Ich bin nicht genug rednerisch, um Ihnen von meinem damaligen Vergnügen eine Beschreibung zu machen; mich dünkt, mein Genie war jetzt gleich einem Vogel, der zum ersten Mal sich seiner Gabe zu fliegen bewußt ist. Ich sang hurtig noch zween Verbindungen und wählte die ersten Menschen dazu: einmal in dem glückseligen Garten mit seiner Neugeschaffenen, und in dem andern sang ich, wie er mit ihr das verriegelte Eden
Anna Louisa Karsch: Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach. F. A. Brockhaus, Leipzig 1831, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitgnossen_3_3_Karsch.djvu/020&oldid=- (Version vom 1.8.2018)