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Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach.
Von ihr selbst,
in Briefen an Sulzer.
Mit Ergänzungen von Wilhelm Körte.




Erster Brief.
(Von 1722–45.)
Den 1. September 1762.

Man hat bei meiner Wiege weder von Ahnen noch von Reichthümern gesungen. Mein Großvater war in einer ländlichen Hütte mit dem Titel eines ehrlichen Mannes vergnügt. Sein gnädiger Herr und mehr als 15 umliegende Dörfer gaben ihm noch überdem den Lobspruch des besten Bierbrauers in Schlesien. Er unterrichtete seinen Sohn, der hernach mein Vater ward, in eben dieser Wissenschaft, und der Sohn verdoppelte seinen Fleiß in Zubereitung des Malzes, um gleich berühmt wie sein Vater zu werden. Seine Jünglingsjahre waren vorüber, als ihm meine Mutter bekannt ward. Sie war die Enkeltochter eines ehemaligen Amtmanns und von einer großmüthigen Landedelfrau erzogen. Dieser hatte sie aus Dankbarkeit vom zehnten bis zum siebenundzwanzigsten Jahr als Mädchen aufgewartet und zum Überfluß die Stelle einer Ausgeberin und eines Kochs bekleidet; 3 Ämter zugleich! Mein Vater erlöste sie von diesen vielen Ämtern, und die Dame gab ihr eine Aussteuer, die meine Großmutter ihr nicht geben konnte, weil sie arm und eine Witwe mit 7 Kindern war. Indessen hatte sie Ursach zu glauben, daß diese Tochter glücklich sein würde, und sie betrog sich nicht. Mein Vater bezog auf einer Meierei das Wirthshaus. Die Herrschaft ließ in Ansehung meiner Mutter ihm einige Vortheile; er verfertigte die Getränke selbst, die der Reisende foderte, bestellte die Küche, um dem hungrigen Wanderer Essen zu schaffen, und meine Mutter beschäftigte sich an seiner Seite. Er unterstützte sie in jedem Geschäft, und sie hat mir oft gesagt, ich hätte mein Leben dem besten und zärtlichsten Vater zu danken.

Unschuldigerweise verdrängte ich meinen Bruder, als den Erstgeborenen, von der mütterlichen Brust. Er erlebte meine Ankunft am 1. Dezember 1722 nicht, und meine Mutter versagte mir ihren Kuß wegen der finstern Stirn, unter der ich hervorsah, als sie das erste Mal

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Anna Louisa Karsch: Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach. F. A. Brockhaus, Leipzig 1831, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitgnossen_3_3_Karsch.djvu/012&oldid=- (Version vom 1.8.2018)