Nur der kleine Kritiker konnte nicht unbefangen diese große traurige Gestalt anblicken, so scheute er die nackte Wahrheit, die ihm so rücksichtslos vor Augen geführt wurde.
Vielmehr schwärmte er für die wesenlose Gestalt der auf einem Felsblock lagernden Venus. Dies war für ihn der Gipfel aller Schönheit, das letzte Wort der Poesie. Nur so etwas wirkte auf ihn aufregend, fast sinnverwirrend, und mit der Menge berauschte er sich an der Wonnegestalt der mythologischen Göttin, die nur zweideutig ihre Reize verhüllte.
Käthe dagegen in ihrer üppigen, aber abgehärmten Gestalt, mit ihrem nicht koketten, sondern wehmütigen Lächeln, trat ihm, wie auch der Menge, urplötzlich vor Augen, wie ein Fragezeichen, als riefe sie ihnen zu: „Ich, ein vollentwickeltes Weib und eine junge Mutter, wurde dennoch mißhandelt, wie ein Vieh dafür, daß ich den Zweck erfüllte, zu dem ich geschaffen bin. Seht, wie ich leide, wie meine Lippen bitter sich beklagen, trotz ihres Schweigens. Meine Schuld ist groß, noch größer aber mein Leid. Ihr aber, die ihr mich in den Abgrund gestoßen, wo bleibt eure Strafe?…“
Eine ganze Woche also hatte Käthe schon im Atelier genächtigt und war immer ruhiger geworden.
Trotz der Besorgnis um die Zukunft schlief sie oft stundenlang ununterbrochen.
Der Taubstumme hing an ihr wie ein treuer Hund und bemühte sich auch auf alle Weise, ihre Lage zu erleichtern. Sogar seine letzte Decke überreichte
Gabriela Zapolska: Käthe. Berlin o. J., Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zapolska_K%C3%A4the.djvu/393&oldid=- (Version vom 1.8.2018)