„Sei doch nicht so ungeschickt! Zieh’ das Laken höher herauf!“
Und Käthe gehorchte und zog mit zitternder Hand die dünne Hülle auf die entblößten Hüften.
So stand sie halb nackend da im hellen Tageslicht, vom Gürtel an in schmutzigweißen Perkal gehüllt. Auch die Füße waren bedeckt und nur die Nägel sichtbar unter der nicht übel angelegten Draperie. Am Gürtel war der Perkal mit einigen Nadeln befestigt, deren schwarze Köpfe vom weißen Gewebe abstachen.
Nur die Büste blendete fast die Augen durch ihre prächtige Nacktheit und hob sich wundervoll ab von den Gips- und Marmorbüsten der Statuen. Ein heller Lichtstrom aus dem Fenster überflutete mit Silberglanz die vollen Schultern und die kühnen, aber reinen Linien des Busens, den die Mutterschaft noch verstärkte zur Größe der vollentwickelten Karyatide.
Vor ihr stand mit entzücktem Lächeln Wodniecki und formte mit Fieberhast aus den Tonmassen den üppigen Körper, der im hellen Tageslichte so deutlich hervortrat.
Käthes Gesicht kümmerte ihn wenig, da es ihm zu welk und verändert erschien. Ebensowenig der Hals, dessen Haut ihm zu sehr ausgedehnt war.
Die bis zu den Hüften reichende Draperie ließ von Schenkel und Waden nur die Umrisse erkennen.
So verbesserte der Künstler die Natur, indem er nur, was noch schön war, dem Modell entnahm und daraus ein Meisterwerk schuf.
Gabriela Zapolska: Käthe. Berlin o. J., Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zapolska_K%C3%A4the.djvu/385&oldid=- (Version vom 1.8.2018)