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gerecht zu werden verstand. Neben den Festpredigten war es die Casualrede, in welcher Löhe die größte Meisterschaft zeigte. Hier kam ihm die wunderbare Gabe der Beobachtung und Beurteilung, die ihn auch sonst auszeichnete, besonders zu statten. Man sagte scherzweise von ihm: er wisse ein einjähriges Kind zu characterisieren. Sein Urteil war ebenso durch Milde als durch unbestechliche Wahrheitsliebe ausgezeichnet. Auf die Ausarbeitung der Lebensläufe verstorbener Gemeindeglieder verwandte er viel Fleiß. Er pflegte sie sorgfältig auszuschreiben, während er die Leichenpredigt meist nur skizzierte. Die Verlesung des Lebenslaufes gieng der Leichenpredigt immer voran und bildete gleichsam das exordium und die narratio zu derselben. Offen und rückhaltslos lobte Löhe, was der Anerkennung, und tadelte er, was der Rüge wert schien. Die Absicht bei der Verlesung der Lebensläufe – sagte er – sei: Beispiele des Guten aus dem Leben des Verstorbenen zur Nachahmung aufzustellen, oder auch – im entgegengesetzten Falle – vor Sündenwegen zu warnen und zur Buße zu ermahnen.

 Wies das Leben des Verstorbenen keine hervorstechenden Züge im Guten oder Bösen auf, so benutzte er irgend einen hervortretenden Umstand aus der Zeit des Krankens und Sterbens des Dahingeschiedenen, um dadurch den allgemeinen Wahrheiten, die man an Gräbern predigt, eine concrete Färbung und ein individuelles Gepräge zu geben. Fast an jedem Fall wußte er ohne Zwang und Künstelei eine Besonderheit zu entdecken und durch Beziehung darauf den Text in ein eigenartiges Licht zu stellen. Wenn irgendwo, so bewies er bei Leichenpredigten seine Meisterschaft, Altes und Neues aus dem Schatz des göttlichen Wortes hervorzubringen. Möge es uns gestattet sein, zum Beleg hiefür – statt allgemeiner Schilderungen – lieber einige Beispiele anzuführen.

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Johannes Deinzer: Wilhelm Löhes Leben (Band 2). C. Bertelsmann, Gütersloh 1880, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6hes_Leben_Band_2.pdf/194&oldid=- (Version vom 1.8.2018)