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dürstet“ ertönt ist. Ist es rührend und erbarmenerregend, sich den menschgewordenen Gottessohn an der Brust eines menschlichen Weibes als Säugling zu denken: was für ein Erbarmen muß es erst erregen, sich den, der alle Tage alle Kreaturen mit Speise und Wohlgefallen sättigt, in dem Gefühl der allerjämmerlichsten Armuth und Entbehrung und voll Sehnsucht nach einem Tropfen Waßer zu denken, während tagtäglich auf Sein Geheiß alle Brunnen und Quellen fließen und die ganze Welt erquicken. Er gibt der ganzen Welt Waßer, ja Wein und Milch und allen Ueberfluß, ohne ihr Bitten, umsonst, und für sich selbst ist Er durch Seinen eigenen Entschluß so gar arm geworden, daß Er von Seinem Kreuze herunter Seine ärgsten Feinde bittet und anbettelt, nur um einen Tropfen Waßer, ja gar um das elende Getränk, das man für die hinzurichtenden Verbrecher bereit hielt, und welches Er am Anfang Seiner sechs bittern Stunden verschmähte. Wahrlich, meine lieben Brüder, ich weiß nicht, welches Wort vom Kreuze mich armen Menschen so sehr zum Mitgefühle reizen könnte, als gerade dieses. Es spricht ganz unmittelbar an mein menschliches Gefühl, erinnert und ermahnt mich, daß mein HErr und Gott um meinetwillen sich es nicht hat verdrießen laßen, zu allen Seinen Schmerzen und unaussprechlichen Verlegenheiten auch noch die tiefe leibliche Armut und Verlaßenheit eines brennenden, tödtlichen Durstes zu erfahren.

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 III. Wenn wir nun aber zum Schluße daran gehen, dem Durste JEsu am Kreuz die ihm gebührende Stelle im Zusammenhang der Leiden unseres HErrn einzuräumen, so liegt alles daran, die Wichtigkeit der körperlichen Leiden JEsu überhaupt für das gesammte große Werk der Erlösung zu erkennen und zu bekennen.