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unaussprechliche Angst und Noth der Seelenleiden, die Länge der Zeit und die Schwere Seiner Leiden müßen Ihm, wie dem Sklaven bei Damaskus, einen brennenden Durst erregt haben, einen Durst, den man wohl mit vollestem Rechte nicht bloß die Wirkung, sondern auch den Gipfelpunkt aller Seiner leiblichen Leiden nennen kann. Weit entfernt also, daß wir das Wort „mich dürstet“ für unbedeutender oder geringer als eines der andern ansehen dürften, stellen wir es im Gegentheil dem großen Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlaßen,“ zur Seite, und schließen aus allem, was wir aus Schrift, Erfahrung und Ueberlegung wißen, daß es ebenso den Höhenpunkt aller leiblichen Leiden JEsu bezeichne, wie das vierte Wort den Höhenpunkt aller inneren, geistlichen Leiden. Wir denken dabei an die Worte des zweiundzwanzigsten Psalms, Vers 15, 16, 18: „Ich bin ausgeschüttet wie Waßer, alle meine Gebeine haben sich zertrennet, mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs; meine Kräfte sind vertrocknet, wie ein Scherben, meine Zunge klebt an meinem Gaumen, ich möchte alle meine Gebeine zählen“ – Worte ohne Zweifel, die ebenso sehr dazu dienen können, die schweren Leiden JEsu Christi als deren austrocknende, dursterregende Kraft darzuthun. Meine Brüder, wer einmal schon im Leben, sei es durch Gemüthserregungen oder durch Mangel dahin gekommen ist, einen heftigen Durst zu erleiden, der kann von dieser Erfahrung aus auf den Durst eines schmerzenreichen, ja eines gekreuzigten Menschen schließen und sich aus dem Mangel an Getränk bei den großen Schmerzen und der jämmerlichen Verlegenheit der Kreuzigung zu einiger Erkenntnis des Zustandes voll Pein und Noth emporheben, aus welchem heraus das Wort „mich