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darüber so grimmig, daß er ihn töten wollte und getötet hätte, wenn er nicht aus dem Lande und zu Laban geflohen wäre. Diesem seinem Bruder Esau zog er nun entgegen, und sein Gewissen weissagte ihm keinen guten Empfang. Da fürchtete sich Jakob sehr, und wahrlich, hätte ihm nicht Gott befohlen heimzuziehen, er wäre nicht weitergezogen. So aber mußte er, und es war ihm eben, als zöge er seinem Richter entgegen.

 Wie es Jakob bei seinem Heimgang zu Gott erging, so ergeht es einem jeden, der seine Seele darein begiebt, die Welt zu verlassen und heimzuziehen zu Gott. Sind ihm auch gleich beim ersten Aufbruch aus Gilead, nach dem festen Entschluß auszugehen, Engelheere begegnet, hat er gleich anfangs wonnevolle Stunden gehabt und manchen Blick in ein seliges Reich der überirdischen Welt, manchen Vorschmack der Seligkeit gehabt; so ist doch das nur der Anfang gewesen, auf die Freude folgt Leid, und wenn es einem Menschen gar so wohl ist, bereite er sich auf Leiden; denn auch die Sonne, wenn sie am heitern Himmel steht, zieht Gewitter zusammen.

 Solange der Mensch noch in der Welt lebt, ist er sicher und ohne Furcht; aber bei dem Aufbruch ins Reich Gottes überfällt ihn nach dem ersten Anfang eine große Furcht, denn Gott öffnet ihm das Auge über sein vergangenes Leben. Der unbekehrte Mensch sieht bloß auf die groben Sünden, aber wer sich bekehrt, dem erscheinen Sünden, welche er zuvor für gering geachtet hat, nach dem Maße, mit welchem Gott mißt, d. i. so groß, als die groben, ja, er erkennt im Lichte der göttlichen Wahrheit Sünden, wo er sonst nichts Sträfliches, wohl gar Tugenden gesehen hat. Er denkt an seinen Bruder Esau, den er betrog, an seinen Vater, den er belog, an das und jenes, was er vergessen hatte. Da wird es mit ihm gar anders, der Stand der Sicherheit ist aus, Schrecken von Gott überfällt ihn, er fühlt sich krank, voll Striemen und voll Schmutz. Er wollte gern gesund, er wollte gern heilig sein; aber ach, er kannte kein Mittel, es zu werden. Er sagte sich alle Tage vor: „Wolle nur, der Mensch kann, was er will“, aber die Erfahrung überweist ihn alle Tage mehr, daß der Mensch zwar allerlei kann, wenn er will, aber sich selbst überwinden,