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dem zehnten Gebote, welches von der Erbsünde handelt, beweisen, daß der Mensch ein böser Baum ist, von welchem man keine gute Frucht erwarten darf, daß er von Geburt an böse ist, daß er böse von Art ist und darum, wenn man einen Menschen oder eine Gemeinde seine Lebetage gar noch nicht gesehen hat, man ihr doch allen Ruhm, alle Tugend, alles Gute nicht bloß ohne Gefahr zu lügen, absprechen könne, sondern nach dem Worte Gottes und der ewigen Wahrheit sogar absprechen müsse. Denn es ist einer wie der andre; sie mangeln alle des Ruhms, den sie vor Gott haben sollten und müssen, wenn sie zur Erkenntnis ihrer selbst kommen, alle mit David beten: „Ich bin aus sündlichem Samen gezeuget, meine Mutter hat mich in Sünden empfangen“. Das nun geht dem Volke schon schwerer ein: jeder läßt sich gern loben und schmeicheln, und schlecht sein will keiner, wenn er’s gleich vor Gott und Menschen wäre. Ja, wenigstens so viel will jeder für sich behaupten, daß er, wenn er gewollt hätte, besser hätte werden können, so viel wenigstens, daß er, wenn er wolle, sich bessern könne, daß er eine gute Anlage und ein gutes Herz habe. Darum sind ja die zwei Sprüche: „Der Mensch kann alles, was er will“ und „Ich habe doch ein gutes Herz“ und „Wenn man nur ein gutes Herz hat“ so erstaunlich allgemein geworden, obschon kein wahres Wort an ihnen ist und sie dem Worte Gottes schnurgerade entgegen sind.

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 Doch auch das noch würde sich der Mensch etwa gefallen lassen: es wird diese Lehre nun schon nahe an 6000 Jahre nachweislich gelehrt und hat mit nichts ausgerottet werden können, da hätte die Menschheit Zeit genug gehabt, sich an dieselbe zu gewöhnen. Aber nun muß der Gesetzprediger, nachdem er Gottes Gebote gelehrt, angewendet und bewiesen hat, daß der Mensch sie weder halten könne, noch viel weniger gehalten habe, muß er erst Gottes Urteil aus der heiligen Schrift über alle Menschen, d. h. über alle Übertreter der zehn Gebote vorbringen. Nun ist es natürlich, daß Gott, der Herr, nichts Gutes von dem Menschen urteilen könne, der Seine Gebote, den Willen Seines Schöpfers nicht nur nicht hält, sondern auch nicht halten kann, es ist leicht zu erraten, daß