Mitleid, angeborenes Erbarmen ist, weil es nicht Geist aus Geist geboren ist, doch nur Fleisch und verleitet zu Verschwendung, hindert auch die liebevolle Weisheit. Das anlangend ist’s ohne Zweifel größere Tugend, nach erkannter böser Absicht eines Bettelnden einen mannhaften Abschlag geben, als Almosen geben. Du sollst auch nicht geben, wie die Heuchler, als könntest du mit Almosen Vergebung deiner Sünden oder den Himmel verdienen. Dies ist ein schwerer Irrtum der sogenannten apokryphischen Bibel, daß sie lehren, Almosen versöhne die Sünde. Es ist eine Irrlehre der katholischen Kirche, von welcher wir erlöset sein sollten, die wir wissen, daß nicht durch das Verdienst unserer Werke, sondern allein durch das Verdienst eines leidenden und sterbenden Gottessohnes Vergebung der Sünden erworben werden sollte. Du sollst auch nicht geben wie die Heuchler, um Lohn und Dank: wenn du Menschenlohn und Dank suchst, arme Seele, da wirst du bald unbarmherzig werden, wenn du erkennen wirst, daß dich die Welt mit Undank lohnt.
Bist du ein Christ, so vergiebst du, weil dein Herz mild geworden ist und du deine Lindigkeit allen Menschen willst kund werden lassen, weil dir geben seliger ist als nehmen, weil du nicht anders kannst, als lieben, und liebend nicht anders als geben, weil dir geben zur andern Natur geworden ist. Bist du ein Christ, so weinst du nicht, wenn du geben mußt, sondern wenn du versagen mußt! Geben wird dir leicht, weil dir dein Gott so viel vergeben und gegeben hat in Christo JEsu! Geben wird dir leicht, weil du so viel hast, daß du dich nie vergeben kannst; denn wenn du auch nichts mehr auf Erden hättest, so wäre das Himmelreich dein Reichtum, dein Gott, dein JEsus, dein Freudengeist, der Glaube, die Liebe, die Hoffnung dein Teil, dein überfließender Kelch. Ach, wenn du Ihn, deinen Gott und Heiland kennst, wenn du weißt, was und wie viel du an und in Ihm hast, dann hast du am liebsten immer volle Hände, als eines gütigen Gottes Kind bist du gütig! Du suchst nichts dahinter, aber du kannst nicht anders, du mußt allen Menschen freundlich sein, sei’s Heide, sei’s Jude, sei’s Christ. Ach! bist du ein
Wilhelm Löhe: Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres. C. Bertelsmann, Gütersloh 1899, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Predigten_f%C3%BCr_die_festliche_H%C3%A4lfte_des_Kirchenjahres.pdf/251&oldid=- (Version vom 10.11.2016)