Seite:Wilhelm Löhe - Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres.pdf/247

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Luk. 10 erst gefragt, ob der unter die Mörder Gefallene seines Öles und Weines würdig war? Sag nicht: „Ja, wenn’s auf Leben und Sterben kommt, gebe ich dem Unwürdigen auch;“ es ist nicht wahr, auch Priester und Leviten gingen an dem tödlich Verwundeten vorüber. Sag auch nicht, dergleichen Fälle kommen nicht oft vor; so eben, wie du, spricht der Geiz, der immer eine Ausflucht sucht und niemals dem Worte Gottes zugeben will, daß es ihn mit Recht tadle. Wenn du einem unter die Mörder gefallenen Menschen Barmherzigkeit beweisen willst, so mußt du überhaupt jedem, von dessen Unwürdigkeit du nicht überzeugt bist, gründlich überzeugt bist, bei einem Herzen, welches gern das Gegenteil wollte, einem jeden solchen mußt du dann auch geben. Denn dem unter Mörder Gefallenen fristest du bloß das irdische Leben, aber dem andern? Bist du gewiß, ob nicht deine Barmherzigkeit an ihm Frucht bringt, daß er in sich geht, daß er sich zum ewigen Leben bekehrt? Es ist nicht vorauszusagen, dein Nein kann recht behalten, aber auch mein Ja, und wenn du deinem Nein Gehorsam leistest und um deiner Unbarmherzigkeit willen eine einzige Seele die Gelegenheit vermißt, sich zu bekehren, welch ein unbarmherziges Gericht wird über dich ergehen? Unbarmherziger, weißt du nicht, daß Gott im Himmel auch Guten und Bösen giebt? ER läßt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte! Vor dem, vor dem barmherzigen Gott mußt du Rechenschaft geben von deinem Almosen, ja vor dem, dessen ausdrückliches Gebot lautet: „Wer dich bittet, dem gieb; und wer dir das Deine nimmt, da fordere es nicht wieder!“

.

 Doch aber, einmal angenommen, man solle keinem geben, auf den man bloß den Verdacht der Unwürdigkeit geworfen; giebt’s denn keine Armen, denen man mit Liebe und Wohlthat beweisen kann, daß man am Geld nicht hängt? Giebt es nicht Alte genug, die sich nicht mehr helfen können, nicht Kranke, die der Labung bedürfen; nicht Waisen, welche im Elend gehen? Und, wenn bei all denen wieder die Ausrede kommt: ja, die haben Verwandte, sie haben Freunde, sie haben Geld genug etc.; giebt’s denn keine wohlthätigen Anstalten,