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uns unsere Vernunft über die wichtigsten Dinge – über Gott und Unsterblichkeit, über Versöhnung und Erlösung, keine Auskunft geben kann? Haben nicht die Weisesten bekannt, daß sie nichts wissen? Und die, welche sich dünken ließen, als wüßten sie etwas, haben sie denn etwas Bleibendes, etwas Seelenstillendes und Erquickendes herausgebracht? Sind sie nicht, je mehr sie mit ihrer Vernunft eigenmächtig die Wahrheit suchen wollten, immer mehr von der Wahrheit abgekommen auf Irrwege? – Und was den Willen anlangt, gehört denn viel dazu, zu erkennen, daß unser Wille dem Göttlichen abgeneigt und dem Bösen zugeneigt sei? Was ist dem natürlichen Menschen mehr zuwider, als wenn er seinen Eigenwillen brechen soll? was schmerzlicher, als wenn er nicht thun darf, was ihm beliebt, wenn er seine Pläne nicht ausführen soll? was kränkender, als wenn ihm seine Sachen nicht nach Wunsch durchgehen? wenn seine Hoffnungen, Pläne, Wünsche scheitern? Ist’s nicht dadurch offenbar, daß unser Wollen dem göttlichen, unsere Wege den Wegen Gottes entgegen sind? daß demnach unser Wille verderbt und böse ist? – Denn was ist gut, außer was Gott will, und was böse, wenn nicht, was dem Willen Gottes widerspricht? – Und was unser Gefühl anlangt – so frage ich: wovon werden wir erfreut, wodurch betrübt? Haben wir nicht eben gehört, daß wir über unsere eigenen Wege und Pläne uns freuen, über Gottes Wege und Pläne weinen? Ist denn ein Gefühl rein und unverderbt, welches mit Eigensinn und Eigenwillen im Bunde ist? – Ich sollte doch denken, meine Brüder, es sei nicht schwer einzusehen, was auch Heiden eingesehen haben, daß nämlich ein Böses mit uns geboren werde; ich denke doch, es ist nur böser Wille, wenn man so viel nicht einsieht und erkennt!

 2. Wenn einer aber auf die Erfahrung an und in sich selbst nicht gehen will, so frage ich, ob nicht auch sonst schon die Erbsünde zu erkennen sei? Ich antworte hierauf ein unbedingtes Ja.

 a) Woher kämen denn so viele böse Gedanken, Worte, Werke, wenn nicht das Herz des Menschen verderbt wäre?