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mehr oder minder zusammenhanglose Sammlung der dem Arzte wichtigsten γνῶμαι. Und der Athener Kritias schreibt auch Aphorismen. Sobald die Denker es dazu brachten, ihre Gedanken im Zusammenhange zu entwickeln, genügte die aphoristische Gnome nicht mehr; wissenschaftliche Untersuchung bedurfte einer logischen Schulung, wie sie erst der attische Geist in Platons Dialektik erreichte, aber die sophistische ἐπίδειξις anstrebte. Da blieb die Gnome immer noch als ein fein geschliffener Edelstein, mit dem Tragiker und Komiker das Prachtgewand ihrer Dramen schmückten; es durften auch falsche Brillanten darunter sein. Und in dem Apophthegma hat die alte Weise noch eine Weile gedauert, auch darin, daß es auf den Urheber des Spruches besonders ankam. Es verlohnt sich aber auch, in der altattischen Literatur auf die Stilisierung in Form der Gnome zu achten. Das ist bewußtes γνωμοτυπεῖν, wie sich Aristophanes ausdrückt. Wer die Reden des Thukydides daraufhin durchsieht, wird bald merken, wie er gemäß der Rhetorik seiner Tage Gnomen schmiedet und rundet[1]. In der kleinen hippokratischen Schrift π. τροφῆς sind die Gnomen, die wesentlich durch die Form heraklitisch klingen, so lose eingefügt, daß man manche ohne Schaden entfernen könnte. Das ist Unvermögen. Herodot ist selbst kein γνωμοτυπικός. Was so erscheint, wie das vielbewunderte „mit dem Hemde legt die Frau die Scham ab“, legt er einem Redner in den Mund, und es kann sehr wohl ein geläufiges Wort gewesen sein, das der Hörer wiedererkennen sollte. Aber es ist sehr hübsch und für die bewußte Kunst in seiner ποικιλία bezeichnend,

  1. Auch inhaltlich spürt man die rhetorischen Schlagworte, συμφέρον, καλόν, δίκαιον in den symbuleutischen Reden. Wer ohne Kenntnis der alten Rhetorik an den Thukydides geht, also nicht merkt, daß seine Reden als rhetorische Kunstwerke wirken wollen, muß ebenso irre gehen, wie wer über die sprachlichen Anstöße hinwegliest. Er mag sich dann in der Überlegenheit seiner Unwissenheit blähen.