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Meine Herren!

Wenn ich heute noch ein letztes Mal vor Sie trete, so setze ich gewissermaßen einen Vortrag fort, den ich vor fünfzig Jahren auf der Philologenversammlung in Wiesbaden gehalten habe. Damals behandelte ich die Entstehung der attischen Literatursprache, nicht unrichtig, aber unzureichend. Der Anfänger hatte etwas gesehen und wähnte, damit wäre alles klar. Heute sehe ich weiter, aber ich gebe keine neuen Resultate, sondern versuche, künftiger Forschung Probleme zu zeigen. Es muß wohl so sein, daß der wissenschaftliche Forscher erst dann recht erkennt, was getan werden kann und soll, wenn er selbst nicht mehr Hand anlegen kann.

Die griechische Sprache lebt noch heute. Gerade jetzt wird ein leidenschaftlicher Kampf um die Bildung einer neuen Schriftsprache geführt, während namentlich die Kirche zäh an einem Griechisch festhält, das beinahe zweitausend Jahre alt ist und selbst damals der gesprochenen Rede nicht mehr entsprach. Wir haben den Vorteil davon, daß wir griechische Bücher und Zeitungen (aber keine Gedichte) ohne weiteres lesen können, aber es ist doch dasselbe, wie wenn die Schriftsprache der romanischen Völker noch immer lateinisch sein sollte, wie sie es in der päpstlichen Kurie immer noch ist. Wie sich der Ausgleich zwischen καθαρεύουσα und χυδαία gestalten wird, steht dahin. Es ist aber ein rühmliches Zeichen für das zugleich wissenschaftliche und nationale Streben der Griechen, daß sie die lebenden Dialekte ihrer Sprache sorgfältig aufnehmen und ein großes