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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

furchtbar angreifen konnte. Für mich unterliegt es hiernach auch keinem Zweifel mehr, daß Sarka-Mana mit voller Absicht gerade dieses Gauklerkunststück in sein Programm aufgenommen hat. Ihm war es fraglos darum zu tun, den weißen Sahib, der ihm seine Enkelin entführt hat, einzuschüchtern. Schade nur, daß wir nicht wissen, wo Ihr Freund Lundja-Mana verborgen hält. Sonst würde ich doch dafür sein, das Mädchen schleunigst herbeiholen zu lassen, um eben allen weiteren unangenehmen Folgen vorzubeugen.“

„Sie meinen also, meinem Kollegen droht Gefahr?“ fragte ich schnell.

Dr. Schusterius umging eine direkte Antwort.

„Auch ich will jetzt ganz offen zu Ihnen sein. Als ich vor fünf Jahren – ich war bis dahin Schiffsarzt der Hamburg-Amerika-Linie gewesen – meine Stellung bei dem Rajah antrat, da habe ich in der ersten Zeit ebenfalls immer spöttisch gelächelt, wenn Fakire im fürstlichen Palast in der Residenz Brolawana ihre Vorstellungen gaben. Als gebildeter Mensch war es mir unmöglich, an übernatürliche Dinge bei diesen Vorführungen zu glauben. Ja, ich habe sogar mit kühler Ruhe versucht, Erklärungen für all die geheimnisvollen Vorgänge zu finden, habe damit auch verschiedentlich Erfolg gehabt. Und doch blieb trotz alledem immer noch ein Rest von ungelösten Rätseln zurück. Ich will Ihnen nur einen dieser Fälle kurz schildern. Es ist derselbe, auf den der Fürst vorhin anspielte. Eines Tages im vorigen Frühjahr war Sarka-Mana bei uns im Palast erschienen und hatte sich erboten, eine Vorstellung zu geben. Da bei dem Rajah gerade mehrere Mitglieder der englischen Aristokratie als Gäste weilten, wurde der Fakir für den nächsten Nachmittag bestellt. Unter anderen Kunststücken zeigte er damals nun auch dasselbe Experiment, welches wir heute sahen. Er schoß einen vorher gekennzeichneten Pfeil in die Luft, nachdem er fast genau dieselben Worte von der jedem Übeltäter drohenden Strafe der Götter gesprochen hatte. Ich muß noch bemerken, daß kurz vorher einer der Diener des Fürsten im Schloßgarten von einem unbekannten Täter erstochen und beraubt worden war. – Am nächsten Morgen fand man nun in einem Hause eines der verrufensten Stadtteile der Residenz einen übel beleumundeten Menschen auf, dem der Pfeil des Fakirs mitten im Herzen saß. Und das Merkwürdigste: das Geschoß hatte tatsächlich den Richtigen getroffen. Denn bei dem Toten entdeckte man später die Uhr und die Börse des ermordeten fürstlichen Dieners. – Hätte man mir diese mysteriöse Geschichte nur erzählt, ich würde ihr nie irgendwelche Wichtigkeit beigemessen haben. Aber ich habe eben alles miterlebt, alles sorgfältig nachgeprüft. Tatsache ist, daß damals Vollmond war und daß Sarka-Mana, sein Gehilfe Dama-Schenk und seine Enkelin schon am Abend Brolawana verlassen und die Nacht in einem entfernten Dorfe zugebracht hatten. – Nach diesem Erlebnis gab ich es auf, mich mit den geheimnisvollen Eigenschaften der indischen Fakire kritisch zu beschäftigen, womit ich allerdings nicht sagen will, daß ich ihnen übernatürliche Fähigkeiten zutraue. Für mich steht nur fest, daß es Leute sind, die mit überaus großer Schlauheit und bester Ausnutzung der gegebenen Umstände arbeiten und außerdem noch über ein ganzes Heer von unbekannten Helfershelfern verfügen, mit deren Unterstützung es ihnen allein gelingt, ihre Künste mit einem so undurchdringlichen Schleier zu umhüllen. – Doch, jetzt kommen Sie, ich möchte Ihrem Freunde noch ein anderes Medikament geben.“

Gern hätte ich den Landsmann noch mehr gefragt. Aber mir schien es, als ob er ein längeres Gespräch über die Fakir-Sekte vermeiden wollte. So folgte ich ihm denn langsam in das Haus.

Nachdem unser Patient willig die Arznei genommen hatte, verabschiedete sich Dr. Schusterius.

„Falls Sie mich brauchen, lassen Sie mich nur sofort holen. Ihr Diener weiß ja, wo mein Wohnzelt steht“, sagte er noch, drückte mir die Hand und schritt dann durch die fast taghelle Nacht dem Jagdlager des Rajahs oben auf dem Palmenhügel zu. – Ich war mit Carlo allein, der regungslos auf seinem Lager ruhte. Der Mond, der senkrecht über unserem Häuschen stand, schien durch die offene, nur mit einem feinen Gazenetz überspannte Dachluke in das Zimmer und zeichnete auf dem Fußboden ein helles Viereck. Leise surrten die Ventilatoren, und ein erfrischender Luftzug durchwehte ununterbrochen den kleinen Raum. Hasso, der Wolfsspitz, lag zu meinen Füßen, den Kopf nach seinem Herrn hingerichtet, und schlief. Und im Traum winselte der Hund bisweilen leise auf, als ob ihn irgend etwas ängstigte. Ich hatte mir ein Buch vorgenommen und las. Denn schlafen konnte ich nach dem Tage mit all seinen Aufregungen doch nicht.

Die Weckeruhr schlug dreiviertel zwölf. Mit einem Male bewegte der Kranke sich. Als ich hinsah, hatte er den Kopf in die Hand gestützt und starrte nach oben, wo der Mond durch das Gazenetz der Dachluke wie ein gelblicher, verschwommener Kreis sichtbar war.

„Kann ich dir irgend etwas reichen, Carlo?“ fragte ich fürsorglich.

Er antwortete nicht, trotzdem er die Augen weit geöffnet hatte. Nochmals fragte ich. Er blieb stumm.

Auch Hasso war wach geworden. Langsam ging er jetzt auf das Lager seines Herrn zu und wedelte bittend mit dem Schwanz … Er wurde ebensowenig beachtet … Da kam das treue Tier zurückgeschlichen und streckte sich wieder unter meinem Stuhle hin.

Von fern her schallte das Kreischen einer aufgescheuchten Affenherde herüber, gleich darauf das langgezogene, schauerliche Geheul des Panthers.

Ich fühlte, wie mein Herz schneller und schneller schlug, wie mich plötzlich eine unerklärliche Angst überfiel. Das Alleinsein mit dem Kranken, der noch immer, als ob sein Geist schon völlig umnachtet war, zum Himmel emporstierte, wirkte auf meine überreizten Nerven immer peinigender. Vergebens zwang ich mich zum Weiterlesen. Meine Gedanken schweiften fortwährend ab. Ich überflog die Seiten und wußte nichts von ihrem Inhalt. Große Schweißtropfen standen mir auf der Stirn, und meine Hände waren kalt und feucht.

Da begann die Uhr zwölf zu schlagen.

Wie eine Erlösung erschienen mir die hellklingenden Töne in diesem bedrückenden Schweigen.

Der letzte Schlag war eben verhallt, als mein Freund plötzlich aufschrie. Der Schrei hatte nichts Menschliches an sich. Hasso und ich fuhren gleichzeitig entsetzt empor. Mit zwei Schritten befand ich mich an der Lagerstatt des Kranken, der jetzt mit weitaufgerissenen Augen auf dem Rücken lag.

Ich taumelte fast zurück, schaute nochmals hin, beugte mich vor, um genauer sehen zu können – kein Zweifel – was dort aus Carlos Brust genau an der Stelle, wo sich das Herz befinden mußte, herausragte, war ein Pfeil – derselbe Pfeil mit den hellen Bändern am Schaft, den Sarka-Manas Bogen heute in den unermeßlichen Äther hinausgeschickt hatte. Und langsam färbte sich jetzt auch meines Freundes weißes Nachtgewand auf der Brust dunkelrot.

Noch stand ich halbgelähmt, unfähig, das Schreckliche zu fassen, da, als Carlo keuchend und kaum verständlich hervorstieß:

„Fritz … Fritz … rette … Lundja-Mana … Insel im Fluß, wo … Arbeitsmaterial …“

Dann stöhnte er noch einmal tief auf, seine Arme zuckten wie im Krampf, und alles war vorüber.

Eine Viertelstunde später kam Dr. Schusterius, den ich durch meinen Diener hatte rufen lassen, notdürftig bekleidet, ganz atemlos angerannt. Er konnte nur noch den bereits eingetretenen Tod feststellen. – Nachdem ich ihm erzählt hatte, was seit seinem Fortgange geschehen war, wies er mit der Hand nach oben, wo in dem straff gespannten Gazenetz der Dachluke ein zackiger Riß klaffte.

„Dort ist der Pfeil hindurchgefahren,“ sagte er leise, damit ihn die draußen die Tür umdrängende Menge der Diener und Arbeiter nicht verstehen sollte. „Woher das Geschoß aber gekommen, die Frage wird Ihnen niemand beantworten können, niemand!“

Am nächsten Vormittag machte ich mich in Begleitung des Doktors nach der kleinen Insel auf, die mitten in dem nur zwei Meilen entfernten Flusse lag und auf der wir in einer Wellblechbude das Material für den Brückenbau vorläufig untergebracht hatten, weil die Insel von den Eingeborenen wegen der im Flusse zahlreich vorkommenden Krokodile möglichst gemieden wurde. Uns stand ein großes, flaches Boot zum Übersetzen zur Verfügung, so daß wir auch unsere Pferde mitnehmen konnten. Wir fanden das langgestreckte, niedrige Wellblechgebäude unversehrt vor. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß fest verschlossen. Schon wollte ich es mit dem Schlüssel öffnen, damit wir das Innere durchsuchen konnten, als Hasso, den ich heute mitgenommen hatte, an der anderen Seite der Insel plötzlich in ein klägliches, ganz eigentümlich klingendes Geheul ausbrach, das gar nicht verstummen wollte.

„Kommen Sie,“ sagte da mein Gefährte kurz, „ich kenne diese Art von Hundegeheul. Hasso hat fraglos eine menschliche Leiche gefunden.“

Durch dichtes Gestüpp mußten wir uns den Weg bis zu jener Stelle bahnen, zu der uns des Tieres langgezogene, jämmerliche Töne hinführten. Und Dr. Schusterius hatte das Richtige vermutet: Die Arme unterm Kopfe verschränkt, mit friedlichem Lächeln, als wenn sie schliefe, lag dort Lundja-Mana, die Enkelin des alten Fakirs. In ihrem Herzen aber steckte, bis zum Heft hineingetrieben, ein langes Messer.

Erschüttert standen wir eine Weile wortlos vor diesem rührenden Bilde. Dann sagte mein Landsmann trübe vor sich hinnickend:

„Also auch sie hat so bitter büßen müssen … Armes, braunes Kind … Deine Liebe zu dem weißen Sahib ist dir wirklich teuer zu stehen gekommen. – Und Sie, lieber Freund, verstehen Sie

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)