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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

Wie Carlo starb.
Eine indische Liebesgeschichte von Walther Kabel.
(Schluß.)

Bevor ich nun völlig wahrheitsgetreu schildere, was wir an jenem Freitag an unerklärlichen Rätseln zu sehen bekamen, möchte ich noch bemerken, daß sich alles dicht vor unseren Augen bei hellstem Tageslicht abspielte, während Sarka-Mana und sein Gehilfe von einem dichten Ringe von Zuschauern eingeschlossen waren, also unter Bedingungen, wie sie zur Vorführung von bloßen Taschenspielerkunststückchen gar nicht ungünstiger sein konnten.

Der alte Fakir begann sein Programm sofort mit einem Experiment, das meine Zweifelsucht sehr stark ins Wanken brachte. Er entnahm dem Weidenkorbe einen langen, buntfarbigen Seidenschleier, schwenkte ihn einige Male in der Luft hin und her und wirbelte ihn dann um einen, vielleicht einen Meter langen dünnen Ast, an dem sich noch frische, grüne Blätter befanden. Den so vollkommen eingehüllten Zweig legte er dicht vor den Füßen des Vizekönigs nieder und trat dann zurück – alles, ohne nur ein einziges Wort zu sprechen. Hierauf reichte ihm sein Gehilfe Dama-Schenk eine Flöte, auf der er eine für meine Ohren äußerst unmelodische Tanzweise zu spielen begann. Plötzlich fing der in dem Seidenschleier eingewickelte Zweig an sich zu bewegen, erst wenig, dann immer heftiger, bis sich das Seidenbündel mit einem Male kerzengrade aufrichtete und aus den Falten des herabsinkenden Schleiers sich der glatte Kopf und der halbe Leib einer Kobra, einer der gefährlichsten Giftschlangen Indiens, herausschälte. Manchem der Anwesenden blieb sicher bei diesem Anblick das Herz vor Schrecken einen Moment stehen. Denn die Gefahr für den Vizekönig und den Fürsten, vor denen das Reptil sich jetzt hochaufgerichtet hin und herwand, war zweifellos keine geringe. Und ich sah es dem ersteren auch an, welche Überwindung es ihn kostete, weiter in seiner verderbenbringenden Nachbarschaft auszuharren.

Sarka-Manas Flötenspiel ging jetzt in ein immer schnelleres Tempo über. Und wie magnetisch von den Tönen angezogen, bewegte sich die Kobra nun langsam auf den alten Fakir zu, der sich inzwischen mit untergeschlagenen Beinen auf dem kostbaren, dicken Perserteppich niedergelassen hatte. Immer näher schlängelte sich das gefährliche Reptil, immer näher, bis es so dicht vor dem Flötenspieler lag, daß er es bequem mit der Hand erreichen konnte. Was nun folgte, geschah so blitzschnell, daß ich die Einzelheiten des Vorgangs nicht klar zu übersehen vermochte. Jedenfalls griff Sarka-Mana plötzlich mit der Rechten nach der Kobra und schwenkte schon im nächsten Augenblick denselben belaubten Zweig in der Hand, den er vorhin in den seidenen Schleier eingehüllt hatte. Die Schlange aber war spurlos verschwunden.

Keine Beifallsäußerung wurde laut. Gegenüber dieser verblüffenden Darbietung blieb ein jeder stumm, schaute nur mit staunender Bewunderung auf Sarka-Mana, der mit kühler Gelassenheit bereits die Vorbereitung zu der zweiten Nummer seines Programmes traf. Dama-Schenk mußte ihm jetzt den rechten, völlig entblößten Arm bis hinauf zur Achsel mit großen Stücken einer trockenen Moosart umwickeln, die wegen ihres starken Harzgehaltes sehr gut brennt und die wir beim Bahnbau ebenfalls regelmäßig zum Anheizen unserer eisernen Öfen benutzten, in denen die Schienenbolzen ausgeglüht werden. Nachdem der Arm dicht mit diesem Brennmaterial umgeben worden war, ließ Sarka-Mana sich abermals auf dem Teppich nieder und streckte den eingehüllten Arm über ein eisernes Becken aus, in dem ein kleines Häufchen Holzkohlen schwelte. Mit einem Male brannte die Moosbandage lichterloh, und es vergingen gut drei Minuten, bis die letzten Stückchen des verkohlten Mooses in das Becken hinabfielen. Dann erhob sich der alte Indier, kam geradewegs auf uns zu und blieb vor Carlo stehen, dem er nun seinen völlig unversehrten Arm entgegenstreckte.

„Mag einer der Zauberer Eurer Heimat, Sahib, mir das nachmachen“, meinte er stolz und kehrte dann wieder in die Mitte des Kreises zurück.

Carlo sagte nichts, schaute mit gefurchter Stirn vor sich hin, als ob er darüber nachgrübelte, auf welche Weise der Fakir wohl seinen Arm zu solcher Unverwundbarkeit hatte präparieren können. Und doch fühlte ich, daß seine nachdenkliche Ruhe nichts als eine Maske war, hinter der er sein hier durchaus gerechtfertigtes Staunen zu verbergen suchte. Schon wollte ich leise eine Frage an ihn richten, als Sarka-Manas Stimme mich davon abbrachte.

„Erhabener Fürst,“ ließ sich der Alte vernehmen, „in längst entschwundenen Zeiten, als noch die Götter auf Erden wandelten, gaben sie einem meiner Ahnen die Macht, Böse zu strafen und Gute zu belohnen. Und diese Macht ist auch auf mich übergegangen, auf Sarka-Mana, den letzten meines Geschlechts. Hier, diesen Pfeil werde ich nachher in die Luft versenden, und derselbe Pfeil wird aus den Wolken herabfallend den treffen, der sich nicht scheut, im

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)