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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

unterhielt sich besonders eifrig mit meinem Freunde, dessen echt germanische Erscheinung – Carlo war ein wahrer blonder Hüne – ihm offenbar sehr gefiel. – Nach Tisch wurden die elfenbeinverzierten Ebenholzstühle, auf denen der Rajah und sein vornehmster Gast, der Vizekönig von Indien, gesessen hatten, vor das Zelt unter den baldachinartigen Vorbau getragen, während für uns und das fürstliche Gefolge elegante Feldstühle in einem Halbkreise schon bereit standen. Der Boden war weithin mit schweren Teppichen belegt, und auf dieser Bühne begannen jetzt eine Schar von phantastisch aufgeputzten Tänzerinnen unter den Klängen einer indischen Nationalkapelle, deren meist gitarrenähnliche Instrumente seltsam weiche, einschmeichelnde Töne hervorbrachten, ihre sinnverwirrenden, von Leidenschaften durchglühten Reigen vorzuführen. Inzwischen reichten Diener Mokka, Zigarren, Zigaretten und die feinsten Liköre herum, und ebenso konnte man auf Wunsch auch weiter eisgekühlte Getränke aller Art erhalten.

Nachdem die Tänzerinnen, denen der Rajah als Zeichen seines Beifalls eine Handvoll Goldmünzen zugeworfen hatte, verschwunden waren, erschienen in dem von den Zuschauern gebildeten Kreise zu meinem nicht gerade freudigen Erstaunen plötzlich Sarka-Mana, der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk, beide heute in ihrem Äußeren so vollständig verwandelt, daß ich sie erst bei genauerem Hinsehen wiedererkannte. Ihre zerrissenen, beschmutzten Lumpen hatten sie mit hellen, mit Seidentroddeln reich verzierten, hellen Mänteln vertauscht, die ihre schlanken Gestalten sehr vorteilhaft kleideten. Das Handwerkszeug zu ihren Kunststücken wurde ihnen von zwei Dienern in einem großen, viereckigen Weidenkorbe nachgetragen. In der Mitte des Kreises machten sie halt und verbeugten sich mit über der Brust gekreuzten Armen tief vor dem Fürsten.

Der Rajah wandte sich jetzt an meinen Freund, der einige Schritte von ihm entfernt neben mir saß:

„Ich hoffe, Ihnen heute etwas ganz Besonderes darbieten zu können. Gewöhnlich zeigt Sarka-Mana, der zu den berühmtesten Mitgliedern der Fakir-Sekte gehört, der großen Menge nur jene alltäglichen Gauklerstückchen, wie Sie und Ihr Freund sie wohl schon in Ihrem Vaterlande gesehen haben werden, allerdings dort nur von Leuten, die sich zu Unrecht indische Fakire nennen. Denn ein richtiges Mitglied der Fakir-Sekte darf nach seinen Ordensregeln seine Heimat nie verlassen.“

„Wir sind Hoheit zu größtem Dank für die Einladung zu dieser Vorführung verpflichtet,“ erwiderte Carlo mit höflicher Verbeugung. „Ganz besonders deswegen, weil ich noch nie – auch hier in Indien nicht – einen Fakir gefunden habe, dessen Leistungen nicht ein mittelmäßiger, europäischer Taschenspieler übertroffen hätte. – Jedenfalls vermochte ich bisher nicht zu begreifen, wie selbst aufgeklärte Männer der Wissenschaft daran glauben konnten, daß die Fakire über übernatürliche Fähigkeiten verfügen.“

Des Rajahs Gesicht war plötzlich merkwürdig ernst geworden.

„Sie werden anders denken lernen, noch heute, seien Sie überzeugt! Mein Leibarzt Dr. Schusterius gehörte auch zu den Zweiflern. Vielleicht sprechen Sie einmal mit ihm über das Thema, wenn Sie Sarka-Mana angestaunt haben, denn das werden Sie sicher tun.“

Dann winkte der Fürst dem alten Fakir, der anscheinend völlig teilnahmslos dagestanden hatte, mit der Hand zu.

(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)