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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

Büchse an die Schulter und zielte nach jener Richtung, als ob ich aufs geradewohl eine Kugel dem unbekannten Feinde entgegensenden wollte. Das half.

„Sahib (Herr), schießt nicht!“ ertönte es jetzt mit einem Male hinter dem dichten Blätterdach in gebrochenem Englisch hervor. „Ich bin’s, Sarka-Mana, der Fakir, den Ihr im Dorfe Goldari vor sechs Tagen gesehen habt.“

Und wenige Augenblicke später stand der alte Indier vor mir auf dem engen Elefantenpfade.

„Was treibst du hier?“ fragte ich mißtrauisch und musterte die hagere, braune Gestalt nicht gerade freundlich. Auch Hasso knurrte den Indier höchst bedenklich an.

„Sahib, Ihr werdet einem alten Manne eine Frage erlauben,“ bat er unterwürfig. „Wo hat Sahib Kieselowsky meine Enkelin hingebracht? – Sie ist seit vorgestern Nacht verschwunden, und nur er kann sie mir entführt haben, mir und ihrem Verlobten Dama-Schenk, meinem Gehilfen.“

Bei dieser Nachricht fuhr ich erschreckt zusammen, faßte mich aber schnell und erwiderte möglichst ruhig:

„Ich kann nicht glauben, was du mir da eben von meinem Freunde erzählst, Sarka-Mana. Woher willst du auch wissen, daß gerade Sahib Kieselowsky das Mädchen fortgebracht hat und jetzt irgendwo verbirgt?“

„Ich weiß es, Sahib. Wir Fakire wissen mehr als andere Sterbliche, viel mehr,“ antwortete er ohne jede Prahlerei. „Und auch meine Enkelin werde ich finden, wenn nur erst der Vollmond über meinem Haupte leuchtet. – Für den Sahib-Freund aber wäre es besser, wenn er Lundja-Mana mir sofort wiedergibt – sofort!“ fügte er mit einem drohenden Aufblitzen seiner dunklen Fanatikeraugen hinzu. Darauf schlüpfte er ohne jeden weiteren Gruß in das Gestrüpp zurück.

Da mir diese Begegnung jede Freude an der Fortsetzung meines Pirschganges gründlich verdorben hatte, kehrte ich heim, allerdings mit der festen Absicht, Carlo noch heute ernstlich ins Gewissen zu reden und zu warnen, mochte daraus auch vielleicht ein völliger Bruch zwischen uns beiden entstehen.

Ich habe meinem Freunde dann auch wirklich wiederholt, was der alte Fakir gesprochen hatte, habe ihm vorgestellt, wie gefährlich es gerade hier in Indien für ihn sei, die Rache eines beleidigten Verwandten und eines betrogenen Verlobten herauszufordern.

Stumm, den Kopf in die Hand gestützt, hörte Carlo, der vor mir am Tische saß, meine Worte an. Jetzt, wo sein Gesicht von dem Schein der Lampe so scharf beleuchtet wurde, bemerkte ich erst den Zug wildester Verzweiflung um seine fest zusammengekniffenen Lippen. Und da überkam mich plötzlich ein tiefes Mitleid. Warm legte ich ihm die Hand auf die Schulter:

„Carlo, folge meinem Rat. Mach dich frei von diesem Mädchen, sobald als möglich, und fliehe irgendwohin, wo du Zerstreuung, Ablenkung findest! Glaube mir, dein Leben schwebt in Gefahr! In den unheimlichen Augen des alten Fakirs war nichts Gutes zu lesen.“

Da sagte er mit dumpfer Stimme: „Denke von mir, was du willst … ich kann von Lundja-Mana nicht lassen, werde sie später auch mit mir nach Europa nehmen. Möglich, daß ich an dieser Liebe zugrunde gehe. Aber auch das ist mir gleichgültig. Ich bin eben nicht mehr derselbe Mensch geblieben, lebe jetzt wie in einem fortwährenden Rausch, kenne mich selbst kaum noch.“ Und leise fügte er nach einer Pause hinzu: „Eigentlich bin ich ja mehr zu bedauern wie zu verdammen.“

„So raffe dich doch auf, nimm einmal all deine Energie zusammen, um von diesem Weibe loszukommen!“

„Ich kann nicht … kann nicht!“ und ein verzweifeltes Stöhnen war der Nachhall dieser trostlosen Worte.

Was jetzt vor mir am Tische saß und mit halb irren Augen nach dem Bilde Leni Bergers hinstarrte, stellte nur noch eine klägliche Ruine des einst so schaffensfrohen, frischen Mannes dar. Unendliches Erbarmen machte mir das Herz weich. Aber ich schwieg. Eins jedoch stand bei mir fest: am nächsten Morgen würde ich meinen armen Freund, und wenn es gewaltsam geschehen müßte, mit mir nach Luknor nehmen und ihn dort einem Nervenarzt übergeben. Denn daß Carlos Geist nicht mehr normal sein konnte, hatte mir diese Aussprache nur zu deutlich gezeigt.

Es sollte nicht sein. Das Schicksal wollte es anders. Um fünf Uhr früh begann mit einem Male – auf unserem verlorenen Posten eine Seltenheit – der auf einem kleinen Wandbrett angebrachte Telegraph zu klappern. Ein langer Papierstreifen, mit Punkten und Strichen bedeckt, rollte sich ab. Er brachte die überraschende Nachricht, daß am nächsten Tage Rajah Sadani mit einem zahlreichen Gefolge auf unserer Station eintreffen würde, um zu Ehren seines Gastes, des Vizekönigs von Indien, Tigerjagden in dem wildreichen Revier abzuhalten. Zu gleicher Zeit wollte der Fürst dann auch den bisher fertiggestellten Teil der Bahnstrecke besichtigen.

Unter diesen Umständen war natürlich an eine Fahrt nach Luknor gar nicht zu denken, zumal wir damit rechnen mußten, daß der Reisemarschall des Rajahs schon heute mit dem üblichen riesigen Troß anlangen würde, um das Zeltlager, besser die Zeltstadt, für seinen Gebieter mit all dem märchenhaften, farbenprächtigen Prunk aufzuschlagen, den wir schon einmal zu bewundern Gelegenheit gehabt hatten. Und wirklich – mittags tauchte aus dem westlichen Dschungel eine endlose Reihe von hochbepackten Elefanten auf, und einige Stunden später waren bereits auf dem etwa fünfhundert Meter von unserem Häuschen entfernten, langgestreckten und mit schattigen Palmen bestandenen Hügel eine Unzahl Diener mit dem Errichten der aus schwerer Seide bestehenden Zelte beschäftigt. Für uns gab es natürlich gleichfalls alle Hände voll zu tun, so daß ich nicht viel Zeit hatte, trüben Gedanken nachzuhängen. Als ich dann – mein Freund wollte inzwischen unsere Garderobe für den Empfang des Fürsten einer wahrscheinlich sehr notwendigen Prüfung unterziehen – gegen Abend in unserem kleinen, gemütlichen Heim erschien, meldete mir mein Diener, daß Sahib Kieselowsky fortgeritten sei und mir sagen ließe, ich solle mit der Abendmahlzeit nicht auf ihn warten.

Es fiel mir bei dieser Nachricht wirklich schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. Denn wohin Carlo seinen flinken Braunen gelenkt hatte, wußte ich genau – eben dorthin, wo er Lundja-Mana verborgen hielt. Er hatte also der Versuchung trotz der gestrigen Aussprache nicht widerstehen können.

So aß ich denn allein und mit recht schlechtem Appetit. Die meisten Stücke des vortrefflichen Brathuhnes bekam Hasso, der bei all seinen Seelenschmerzen um die verlorene Zuneigung seines Herrn wie immer einen recht anständigen Hunger entwickelte. Ich hatte die Tür des Häuschens offen gelassen und konnte daher von meinem Platze aus einen großen Teil der Gegend, durch die sich der frisch aufgeschüttete Eisenbahndamm wie ein graugelber Streifen hindurchzog, bequem überblicken. Wie ich noch so in Gedanken versunken in das abwechslungsreiche Landschaftsbild hinausschaute, erschienen plötzlich in der Tür zwei lange, hagere Gestalten, die nach bescheidenem Gruß draußen stehen blieben. Es waren Sarka-Mana der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk.

„Sahib, verzeiht die Störung,“ begann der Alte, „Wir möchten Euern Sahib-Freund sprechen.“

„Mein Freund ist ausgeritten,“ entgegnete ich der Wahrheit gemäß und streichelte gleichzeitig beruhigend den wütenden Hasso, der sich schon zum Sprunge zusammengeduckt hatte. Fraglos waren die beiden Indier dem klugen Tiere äußerst unsympathisch.

Sarka-Manas Augen glitten inzwischen blitzschnell und seltsam prüfend über die Einrichtung unseres Häuschens hin.

„Sahib,“ bat er dann in demselben unterwürfigen Tone, „ich möchte Euch allein etwas sagen, Euch allein.“ Und dabei schaute er bezeichnend nach meinem Diener hin, der eben die Teller wegräumte. Nachdem dieser von mir hinausgeschickt war, fuhr der alte Fakir mit leiser, eindringlicher Stimme fort:

„Sahib, Lundja-Mana, meine Enkelin, ist noch immer nicht zu uns zurückgekehrt. Aber in der ersten Vollmondnacht gehört sie wieder uns, nur uns! – Mag Sahib Kieselowsky dem Mädchen das bestellen von mir, ihrem Großvater.“

„Und weiter wünscht Ihr nichts?“ fragte ich kurz, um die braunen, unbequemen Gesellen endlich loszuwerden.

„Nichts, Sahib … Nur vergeßt nicht: In der ersten Vollmondnacht kehrt Lundja-Mana für immer zurück!“

Als ich allein war, grübelte ich doch unwillkürlich über des Alten rätselhafte Worte nach. Schließlich zog ich meinen Taschenbuchkalender hervor, um nachzusehen, an welchem Tage wir die volle Mondscheibe zu erwarten hatten. Am Freitag, und heute war Mittwoch. Also noch zwei Tage … Sie vergingen infolge der Abwechslung, die der Besuch des Rajahs mit sich brachte, wie im Fluge. Mein Freund aber fand immer noch Zeit, mehrere Stunden der Nacht seinen geheimnisvollen Ausflügen zu opfern, deren Ziel mir auch jetzt noch unbekannt war. Gewiß, ich hatte Carlo den Auftrag des alten Fakirs getreulich ausgerichtet, jedoch nicht das Geringste damit erreicht. Als einzige Antwort bekam ich von ihm zu hören:

„Mag Sarka-Mana seine Enkelin nur suchen! Im übrigen, Fritz, überlasse mich nur meinem Schicksal. Mir ist doch nicht mehr zu helfen.“

Für den Freitag hatten wir eine Einladung des Rajahs zur Mittagstafel erhalten. Diese fanden wir in dem großen Wohnzelte aufs prunkvollste gedeckt und mit einer schier erdrückenden Menge silberner und goldener Tafelgeräte bestellt. Der Fürst, ein noch junger Mann mit fast europäischem Gesichtsschnitt und ganz heller Hautfarbe, behandelte uns mit großer Liebenswürdigkeit und

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)