Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

zwölfte Stunde verkündete, begann ich mich ernstlich um den Abwesenden zu sorgen. Auch Hasso war immer unruhiger geworden und lag jetzt leise winselnd an der Tür. Kurz entschlossen erhob ich mich, machte Licht und trat ins Freie hinaus. Der Zufall wollte es, daß ich in demselben Augenblick dumpfe Hufschläge vernahm und bald darauf auch ein Reiter vor mir auftauchte, dem der Hund freudig bellend entgegensprang.

„Du bist wohl unter die Nachtschwärmer gegangen, Carlo?“ begrüßte ich ihn scherzend.

Er antwortete nur mit einem unverständlichen Murmeln und warf dann seinem inzwischen herbeigeeilten Diener die Zügel zu.

Etwas verletzt über seine Unfreundlichkeit ging ich ihm voraus ins Zimmer und kroch wieder unter mein Moskitonetz. Carlo war mir auf dem Fuße gefolgt und hatte sich schwer in einen der um den Mitteltisch stehenden Stühle fallen lassen. Jetzt saß er unbeweglich da und starrte verträumt in das Licht der Lampe. Da erst bemerkte ich, wie hohl seine Wangen waren und welch dunkle Ringe seine Augen umgaben. Schon wollte ich ihn mit einer besorgten Frage anreden, als er plötzlich aufsprang und heiser hervorstieß:

„Fritz, du mußt mir helfen, mich retten … vor mir selbst! Wie ein wahnsinniger Rausch ist’s plötzlich über mich gekommen … Mein Blut siedet, ich fiebere am ganzen Körper. So, so, hat mich dieses Mädchen behext … mich, denselben Carlo, der bisher der treueste Verlobte gewesen ist, der allertreueste …“

Und er blieb tiefatmend vor einem Bilde stehen, das neben seiner Hängematte an der Wand hing. Das Bild stellte seine Braut dar im weißen Tenniskostüm – jene Leni Berger, der auch ich eine Zeitlang vergebens nachgeschmachtet hatte. Lange blickte er auf die Kabinettphotographie hin … Dann fuhr er sich wie erwachend mit der Hand über die Stirn.

Jetzt konnte ich doch nicht länger an mich halten.

„Du faselst, Carlo … Offenbar hast du Fieber. Da, in dem Medizinschränkchen liegt die Schachtel mit den Chininpillen. Nimm schleunigst eine und versuche dann einzuschlafen. Morgen aber bleibst du ruhig zu Hause und schonst dich. Mit einer beginnenden Malaria ist nicht zu spassen.“

Da lachte er bitter auf.

„Ich wünschte, ich hätte Malaria … Aber leider …! Das Fieber steckt bei mir im Herzen, Fritz, hier …!“ Und er schlug sich mit der Faust wie im Krampf dröhnend gegen die Brust.

Ich begann jetzt wirklich für ihn zu fürchten.

„Du phantasierst, Carlo … Sofort legst du dich nieder. Ich werde dir Chinin und dann noch ein Schlafpulver geben, damit du zur Ruhe kommst.“ –

Ich wollte meine Hängematte verlassen, aber er wehrte energisch ab. Und während er nun mit schnellen Schritten den kleinen Raum durchquerte, beichtete er mir alles, was ihn bedrückte, was ihn plötzlich so völlig verwandet hatte.

„Gestern abend waren wir doch dort drüben in dem Dorfe – Goldari heißt’s, richtig! Du besinnst dich, daß wir da eine Viertelstunde einer Fakir-Truppe zuschauten, die den armen Hindus ihre Gauklerkunststückchen vorführte. Truppe ist zuviel gesagt. Es waren nur drei Personen – zwei zerlumpte, halb verhungerte, braune Kerle und … sie … sie …“

Erstaunt richtete ich mich auf.

„Wie … diese braune Schöne hat’s dir angetan, die Enkelin des alten Fakirs, den du mit deinen spöttischen Bemerkungen über seine angeblich übernatürlichen Fähigkeiten so schwer beleidigtest?!“

Carlo war stehen geblieben.

„Laß den alten Narren und ebenso seinen Gehilfen aus dem Spiel“, sagte er geringschätzig. „Hier handelt es sich nur um das Mädchen … Und die ist eine Zauberin, Fritz, – muß es sein, muß! Denn … mich, den kaltblütigen, zielbewußten Menschen mit einem Schlage so vollkommen aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

Die letzte Bemerkung hatte mein Freund offenbar etwas sehr voreilig hingesprochen. Im Gegenteil – meiner Ansicht nach war es sogar sehr leicht zu verstehen, daß ein Mann sich in die schlanke, phantastisch, aber peinlich sauber gekleidete, glutäugige Indierin vergaffen konnte. Hatte das Mädchen mit ihren dunklen, unergründlichen Augen, deren Ausdruck beständig von ungezügelter Wildheit bis zur weichsten Träumerei wechselte, doch auch auf mich einen eigenartigen Reiz ausgeübt, der allerdings meinen Herzschlag auch nicht für eine Sekunde beschleunigte. Dazu bin ich Frauen – selbst den schönsten – gegenüber stets zu gleichgültig und zu kritisch gewesen.

Ohne Scheu gestand Carlo mir nun ein – und fraglos erleichterte ihn diese Beichte bei seiner durch die widerstreitendsten Empfindungen hervorgerufenen Gemütsverfassung sehr -, daß ihn am vergangenen Abend sofort beim ersten Anblick des braunen Mädchens ein seltsames Gefühl von seelischer Unruhe überkommen hatte, über dessen eigentliche Bedeutung er sich zunächst selbst nicht klar zu werden vermochte. Daher auch war er so schweigsam neben mir nach Hause geritten. Und in einer schlaflos verbrachten Nacht hatte er dann erkannt, daß ihn eine unbezwingliche Sehnsucht nach der Indierin hinzog, eine Sehnsucht, die sich selbst durch die angestrengteste Tätigkeit am nächsten Tage nicht betäuben ließ und der er dann abends fast willenlos nachgab, indem er wieder nach dem Dorfe Goldari hineilte, nur um Lundja-Mana, die Enkelin des alten Fakirs, zu sehen und womöglich zu sprechen. Und das Unglück hatte es wirklich gewollt, daß er ihr bei den ersten Hütten begegnete.

Als mein armer Freund mir nichts mehr zu gestehen hatte, da überlegte ich mir erst, bevor ich ihm antwortete, wie ihm wohl am besten geholfen werden könnte. Das eine war sicher: hier mußte sofort mit einer Radikalkur eingegriffen werden, wenn man den unheilvollen Einfluß der braunen Schönen zerstören wollte. – Schießlich machte ich ihm den Vorschlag, am kommenden Morgen in aller Frühe mit der Lokomotive des Zuges, der das fertiggestellte Stück der Bahnstrecke zum Herbeischaffen des notwendigen Arbeitsmaterials des öfteren befuhr, nach der Provinzialhauptstadt Luknor hinüberzudampfen und dort einige Tage zu bleiben. Inzwischen würde dann hoffentlich die Fakirtruppe aus unserer Gegend verschwunden sein.

Carlo war mit allem einverstanden. Und mit einem wehmütigen Blick auf das Bild seiner Braut, setzte er noch hinzu:

„Um Lenis willen …!“

Einigermaßen beruhigt, versuchte ich nun endlich einzuschlafen. Aber noch lange Zeit hielten mich die Gedanken und meines Freundes fortwährende Bewegungen wach, die die leichten Decken seiner Hängematte ständig knittern und rauschen ließen. Offenbar konnte auch er keinen Schlaf finden.

Der nächste Morgen brachte mir eine herbe Enttäuschung. Carlo schien sein Versprechen, nach Luknor fahren zu wollen, völlig vergessen zu haben. Und als ich ihn vorsichtig daran erinnerte, brauchte er allerhand Ausflüchte, die mir bewiesen, daß sein Liebesabenteuer mit Lundja-Mana sicherlich eine Fortsetzung erfahren würde. – Ich muß hier einfügen: Wir kannten uns von der Schule her, hatten zusammen studiert und waren dann auch gleichzeitig bei der Aktiengesellschaft Germania als Ingenieure eingetreten, bei derselben Firma, die uns jetzt mit der Leitung des Bahnbaues nach der Residenz des Rajahs Sadani betraut hatte. Und auf Grund dieser langjährigen Freundschaft glaubte ich mir jetzt wohl das Recht herausnehmen zu dürfen, ihm ernstliche Vorhaltungen über sein energieloses Benehmen und seine grobe Pflichtverletzung seiner fernen Braut gegenüber zu machen. Doch zu meinem großen Schmerze erfuhr dieser gutgemeinte Freundesdienst von ihm eine Zurückweisung, die mich bei ihrer beinahe beleidigenden Form zu dem festen Entschlusse kommen ließ, mir fortan jede Einmischung in Carlos Privatangelegenheiten zu sparen.

Während der nächsten drei Tage geschah nichts Besonderes. Carlo und ich, die wir bisher ein Herz und eine Seele gewesen waren, gingen uns scheu aus dem Wege und sprachen nur das Notwendigste miteinander. Abends blieb ich stets allein. Mein Freund ritt immer sofort nach Arbeitsschluß davon. Wohin, wußte ich nicht. Es war mir auch gleichgültig. Meist kehrte er erst in später Nachtstunde zurück. Seinen Wolfspitz Hasso vernachlässigte er jetzt vollkommen. Der arme Hund fühlte das sehr gut und schlich beständig mit trübseligem Gesicht und hängendem Schwanz umher. Da das treue Tier mir leid tat, nahm ich es regelmäßig bei meinen abendlichen Jagdausflügen mit, wofür es mir stets auf seine Hundemanier durch freudiges Bellen und Umherspringen seine tiefe Dankbarkeit ausdrückte.

Am vierten Abend nach jener Nacht, in der Carlo vor dem Bilde seiner Braut Besserung gelobte, hatte ich dann eine Begegnung, die wieder neue, noch schwerere Sorgen auf meine Seele lud. Ich war mit meiner Büchse am Ufer des nahen Flüßchens entlanggepirscht, um womöglich einen Panther, der die Hütten unserer Arbeiter häufig umschlich und schon manches Zicklein geraubt hatte, zum Schuß zu bekommen. Hasso führte ich an der Leine mit mir, da ich fürchtete, der Hund könnte beim Umherstreifen in dem dichten Unterholz von einer der hier recht zahlreichen Giftschlangen gebissen werden. Plötzlich – ich schritt gerade auf einem schmalen Pfade in dem Röhricht dahin, den wahrscheinlich Elefanten ausgetreten hatten – blieb der Wolfsspitz mit gesträubtem Rückenhaar stehen und starrte unverwandt in das undurchdringliche Gestrüpp, wobei er jene knurrenden Laute ausstieß, mit denen das gut dressierte Tier stets vor einer drohenden Gefahr zu warnen pflegte. Blitzschnell hatte ich den Kugellauf meines Gewehres entsichert und durchforschte nun aufmerksam mit den Augen jene Stelle, hinter deren grünem Blättervorhang ohne Zweifel irgendein verdächtiges Wesen lauerte. Aber vergebens suchten meine Blicke das Unterholz zu durchdringen. Schließlich hob ich die

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)