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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

Wie Carlo starb.
Eine indische Liebesgeschichte von Walther Kabel.
(Nachdruck verboten.)
1.

Uns beiden Ingenieuren, die wir den Bau der Eisenbahn leiteten, durch welche die Residenz Brolawana des indischen Rajahs Sadani mit der großen Staatsbahn verbunden werden sollte, war zu unserer Bequemlichkeit von unserer Hamburger Firma, der der überaus deutschfreundliche Fürst die Ausführung der seit langem geplanten Strecke übertragene hatte, ein kleines, auseinandernehmbares[1] Holzgebäude geliefert worden, das außer der mit allem Luxus eingerichteten Küche nur noch einen großen, uns gleichzeitig als Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer dienenden Raum enthielt. Dieses praktische Häuschen, das im Innern mit mehreren, durch Akkumulatoren in Bewegung zu setzenden Ventilatoren versehen war, ließen wir immer mit dem Vorwärtsrücken des Schienenstranges an einer uns geeignet erscheinenden Stelle aufrichten. So hatten wir stets ein gemütliches Heim, in dem wir bei unseren Zeichnungen, guter Lektüre und gelegentlichen anregenden Gesprächen gar nicht so recht merkten, daß wir uns mitten in der Wildnis der indischen Dschungel mit ihrer Fieberluft und ihren gefährlichen vierbeinigen und kriechenden Bewohnern befanden. Abends, wenn die Arbeit auf der Strecke ruhte und unsere farbigen Untergebenen in ihren Laubhütten mit dem Kochen ihrer einfachen Mahlzeit beschäftigt waren, ließen wir uns regelmäßig unsere Pferde satteln und machten kurze Ausflüge nach den nächsten Dörfern hin.

Nach einem dieser Spazierritte fiel es mir schon bei der Rückkehr auf, daß mein Freund und Fachkollege Carlo Kieselowsky merkwürdig wortkarg war und meist versonnen vor sich hinstarrte. Auch den Rest des Abends blieb er stumm, trotzdem ich mir alle Mühe gab, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Am nächsten Tage mußte ich dann leider feststellen, daß aus dem sonst so lebendigen, humorvollen Carlo ein mürrischer, beinahe unliebenswürdiger Gesellschafter geworden war. Ich fürchtete schon, die ersten Anzeichen von Malaria könnten sich bei ihm in dieser Weise bemerkbar machen. Aber bald wurde ich eines Besseren belehrt. Denn als ich ihm gegen Abend vorschlug, heute einmal zur Abwechslung einen kleinen Pirschgang nach dem nahegelegenen Flüßchen zu unternehmen, wo man sicherlich bei der Tränke jagdbares Wild antreffen würde, meinte er mit schlecht verhehlter Verlegenheit:

„Laß dich nicht stören, Fritz … Ich für meine Person möchte doch lieber ein Stück reiten. Bei der drückenden Schwüle zu Fuß zu gehen, ist ein recht mäßiges Vergnügen.“

Es war dies das erstemal, daß wir uns über die Verwendung unserer freien Stunden nicht einig waren. Bisher hatte stets einer dem andern sofort nachgegeben. Mein Freund brach also wirklich allein auf, während ich mir nur meinen eingeborenen Diener Sadah Lenki als Büchsenträger mitnahm. Als ich dann gegen zehn Uhr todmüde heimkehrte – ich hatte nur zwei armselige Perlhühner geschossen –, war Carlo noch nicht zu Hause. Ich legte mich sofort in meine Hängematte, nachdem ich die Ventilatoren eingestellt und die große, in der Mitte des Daches befindliche Luke geöffnet hatte, zog das Moskitonetz über mir zusammen und versuchte einzuschlafen. Aber Stunden vergingen, und noch immer war ich wach und lauschte gespannt auf jedes Geräusch, das von draußen in unser Häuschen hineindrang. Und noch nie hatte mich das Kreischen vorüberstreichender Vögel, das dumpfe Brüllen eines beutelüsternen Leoparden und das gleichmäßige Surren der Ventilatoren so sehr gestört wie gerade heute. Auch Carlos Wolfspitz Hasso, den er sich von Europa mit herübergebracht hatte, zeigte seine Anhänglichkeit an seinen Herrn in einer Weise, die mir immer lästiger wurde. Das treue Tier kam nicht zur Ruhe, legte sich bald hier, bald dort zum Schlafe nieder, um nach kurzer Zeit wieder aufzustehen und langsam über den Linoleumfußboden mit tappenden Schritten auf- und abzuwandern. – Ja, weswegen hatte mein Freund eigentlich seinen Hund, den er wie ein menschliches Wesen liebte, zu Hause gelassen, wo Hasso doch sonst sein unzertrennlicher Begleiter war …?! Diese Frage, die ich mir nicht beantworten konnte, lenkte meine Gedanken unwillkürlich auf das ganze, so eigentümliche Verhalten Carlos über, das ich seit gestern abend leider nur zu schmerzlich bemerkt hatte. Ich grübelte und grübelte, fand aber keine Erklärung dafür, außer der, daß diese Veränderung in seinem Wesen ihren Grund einzig und allein in seinem Gesundheitszustande haben könnte.

Als unsere kleine Weckeruhr mit ihren klingenden Schlägen die


  1. Vorlage: aus einandernehmbares
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)