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hatte aufgehört, die Sinnlichkeit hatte gesiegt, und loderte jetzt mit furchtbarer Gewalt in ihm empor. Mein sollst du seyn! rief er mit vor Verlangen zitternder halb erstickter Stimme, und streckte beide Arme nach dem Mädchen aus, um sie an sich zu reißen, und drückte seine heißen, durstigen Lippen auf ihren Nacken.

Aber die Verzweiflung gab der Jungfrau ungewohnte Kräfte, sie riß sich von ihm los und stieß ihn von sich, daß er rücklings zur Erde stürzte. Dann lief sie mitten ins Zimmer und warf sich auf die Knie und flehete mit heißer Inbrunst zum Himmel um Rettung. O Herr, Herr! rief sie, hoch die gefalteten Hände emporstreckend, sey mir gnädig, errette mich! Vernichte meinen Leib, damit meine Unschuld bewahrt, meine Seele gerettet werde! O Geist meiner Mutter, bitte, flehe für mich! O Himmel, sende deine Blitze.

Aber es geschah kein Wunder, es kam kein Blitz. Der Jüngling hatte sich von der Erde wieder emporgehoben, der Fall hatte seine Glut nicht abkühlen können; im Gegentheile, immer wilder wurde seine Begierde, immer unbändiger der Aufruhr seiner Sinne. Seiner nicht mehr mächtig, raffte er sich auf und stürzte von neuem auf die knieende Jungfrau, wie der Geyer auf die Taube. Auch ihm hat die Leidenschaft schnell die Kräfte wieder geliehen, die seine Krankheit ihm genommen hatte; so wenig er in diesem Augenblicke ein Mensch war, so wenig war er auch krank oder schwach; er war ein wildes, rasendes Thier. Mit kräftiger Faust riß er die Jungfrau in die Höhe und schleppte sie zu seinem Lager. Mein sollst du seyn! rief er mit lallender Zunge.

Empfohlene Zitierweise:
H. Stahl alias Jodocus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten. Büschler'sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, Seite 030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Westph%C3%A4lische_Sagen_und_Geschichten_030.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)