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hinab, bis er an ein enges, dunkles Thal kam, in welches kein Strahl des Mondes drang. Lange schritt er immer tiefer in dieses hinein, und folgte seinen mannigfaltigen Windungen. Auf einmal kam er an eine Stelle, auf die, wie durch eine Spalte des gegenüber liegenden Berges, fast wundersam der Mond schien. Es war ein schmaler Streifen Rasen, auf dem uralte, dicke Eichen standen; mitten zwischen diesen erhob sich, seltsam von dem bleichen Monde beleuchtet, ein hoher, runder Thurm von grauen Steinen.

Lutz stand hier still, und schaute, wie mit sich selbst streitend, den hohen, grauen Thurm an. Kein Laut ließ sich in der stillen Nacht vernehmen. Kein Leben regte sich in der ganzen Natur um ihn her; es war, als wenn alles hier todt sey; selbst die mit Laub bedeckten, von keinem Winde bewegten Bäume, schienen in dem ungewissen Mondlichte nur ein fabelhaftes, geisterähnliches Daseyn zu haben.

Auf einmal öffnete sich eine niedrige Thür an dem Thurme, und ein hohes Weib schritt in langen, weiten Kleidern daraus hervor. Es war die Drude. Langsam trat sie in die warme, helle Nacht hinaus; lange sah sie sich schweigend nach allen Seiten um; dann ging sie zu einer hohen Eiche, an deren Stamm den Göttern ein Altar von riesigen Steinen errichtet war. An diesem blieb sie stehen, und breitete eine Rolle darauf aus, die sie mitgebracht hatte. Darin las sie eine Zeitlang, bis sie auf einmal rasch ihr tiefgefurchtes Gesicht zu der vollen Mondesscheibe emporrichtete. Sie blickte starr und unverwandt in dieselbe; aber plötzlich senkte sie Gesicht und Augen und verbarg jenes mit ihrem Gewande, das sie mit beyden Händen davor hielt.

Empfohlene Zitierweise:
H. Stahl alias Jodocus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten. Büschler'sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, Seite 012. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Westph%C3%A4lische_Sagen_und_Geschichten_012.png&oldid=- (Version vom 9.9.2019)