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Die Phantasie des Volks hat die Sagen geschaffen, oft eine sanfte, oft eine bunte, oft eine wilde, aber immer, und dadurch unterscheidet sich die Poesie der Sagen von anderer Poesie, ruhet über ihnen, trotz ihrer Abentheuerlichkeit das Kleid der Einfachheit, und trotz ihres Individualisirens der Schleyer des Geheimnißvollen. Daher lebt in seinen Sagen ein Volk sein poetisches, aber sein wunderbar poetisches Leben.

Immer aber lebt es sein eignes Leben darin; und schon darum, um dessen individuelle und besondere Richtungen und aus diesen wieder die Eigentümlichkeit seines Charakters kennen zu lernen, kann, abgesehen von allem historischen Werthe, die Sage eines Volks unmöglich dem unbedeutend seyn, dem die Kenntniß des Menschen überhaupt, und folglich die höchste Kenntniß im Leben nichts Unbedeutendes ist; denn, wie der heilige Augustinus sagt: „Wer den Menschen kennt, kennt Gott!“ (Prima dei cognitio est scire homo quid sit.) Wie außerordentlich interessant mußte es z. B. seyn, eine Sagensammlung der Deutschen, Franzosen, Engländer, Spanier u. s. w. zu haben und diese mit einander vergleichen zu können! Welche wichtige Aufschlüsse über Bildung, Sitte und Charakter dieser Völker würde man dadurch

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H. Stahl alias Jodocus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten. Büschler'sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, Seite IV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Westph%C3%A4lische_Sagen_und_Geschichten-04.png&oldid=- (Version vom 9.9.2019)