Wendung noch erwartet. So wird zum Beispiel auseinandergesetzt, daß die Frau meist Scheu empfinde vor männlicher Nacktheit, und dies wird – man staune! – als Beweis betrachtet dafür, »daß die Frauen von der Liebe nicht die Schönheit wollen, sondern – etwas anderes!« Von der Liebe werden sie wohl die Liebe wollen, und »die« Schönheit in ihr zu finden hoffen. Die vorangehenden Ausführungen über männliche und weibliche Nacktheit sind von beinahe obszöner Brutalität und von einem fast wilden Hasse gegen alles Natürlich-Geschlechtliche erfüllt. Schon die Debatte überhaupt, ob diese Vorgänge und ihre Organe »schön« oder »nicht schön« sind, verrät einen falschen Standpunkt, da es sich um Naturnotwendiges handelt, das schon durch seinen eminenten Zweck für eine solche Bewertung gar nicht geeignet ist. Es ist ihm ein »Rätsel«, warum gerade die Frau vom Mann geliebt wird! Warum gerade die Frau?? Ja, soll denn der Mann nur Hennen, Ziegen, Stuten oder Knaben lieben?! Und warum wird denn »gerade der Mann« von der Frau geliebt? Vermutlich weil es nur diese zwei Arten Menschen gibt. Weininger weiß übrigens für dieses »Rätsel«, warum die Frau geliebt wird, eine hochpoetische Erklärung: bei der Menschwerdung habe nämlich der Mann durch einen »metaphysischen Akt« (?) die Seele für sich allein behalten! Aus welchem Motive vermöge man freilich »noch nicht« abzusehen! (Wirklich nicht? Vielleicht läßt sich’s durch Algebra herausbringen?) Dieses sein Unrecht büßt er nun in der Liebe, durch die er ihr »die geraubte Seele zurückzugeben sucht«! Er bittet ihr also seine Schuld durch die Leiden der Liebe ab! Aber halt! Wie ist’s denn, wenn sie ihn liebt? Was bittet sie ihm durch die Leiden ihrer Liebe ab?
Will sie ihm auch eine »geraubte Seele« schenken? Aber richtig, sie hat ja keine!
Grete Meisel-Heß: Weiberhaß und Weiberverachtung. Die Wage, Wien 1904, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Weiberhass_und_Weiberverachtung.djvu/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)