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VERSTECKTES KIND. Es kennt in der Wohnung schon alle Verstecke und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu finden. Ihm klopft das Herz, es hält seinen Atem an. Hier ist es in die Stoffwelt eingeschlossen. Sie wird ihm ungeheuer deutlich, kommt ihm sprachlos nah. So wird erst einer, den man aufhängt, inne, was Strick und Holz sind. Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten. Um keinen Preis darf es gefunden werden. Wenn es Gesichter schneidet, sagt man ihm, braucht nur die Uhr zu schlagen und es muß so bleiben. Was Wahres daran ist, das weiß es im Versteck. Wer es entdeckt, kann es als Götzen unterm Tisch erstarren machen, für immer als Gespenst in die Gardine es verweben, auf Lebenszeit es in die schwere Tür bannen. Es läßt darum mit einem lauten Schrei den Dämon, der es so verwandelte, damit man es nicht findet, ausfahren, wenn es der Suchende faßt – ja, wartet diesen Augenblick nicht ab, greift ihm mit einem Schrei der Selbstbefreiung vor. Darum wird es den Kampf mit dem Dämon nicht müde. Die Wohnung ist dabei das Arsenal der Masken. Doch einmal jährlich liegen an geheimnisvollen Stellen, in ihren leeren Augenhöhlen, ihrem starren Mund, Geschenke. Die magische Erfahrung wird Wissenschaft. Das Kind entzaubert als ihr Ingenieur die düstere Elternwohnung und sucht Ostereier.


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Walter Benjamin: Einbahnstrasse. Rowohlt, Berlin 1928, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Walter_Benjamin_Einbahnstrasse.pdf/42&oldid=- (Version vom 9.6.2018)