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Aber dieses System könnte sich eines Tages gegen die drehen, die es heute anwenden.

Die Dissidenten oder Raskolniks sind außerordentlich zahlreich; gewissenhafte Schriftsteller schätzen ihre Zahl auf zwölf Millionen. Ihre Benennungen sind zahlreich; sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den unzufriedenen Elementen, die der Mißbräuche überdrüssig sind. Ihr Bestehen wird oft geheim gehalten, und sie bilden eine ernsthafte Opposition gegen die russische Nationalkirche.

Die Mißbräuche in der russischen Kirche sind schreiend; das Volk selbst hat noch Religion, weshalb auch die Verachtung, die manchen der Religionsdiener zukommt, nicht so allgemein ist. Aber der Unglaube dringt mehr und mehr in Rußland ein. Wenn es einmal so weit gekommen sein wird, daß die höhern Stände unter dem Vorwande der Unwürdigkeit der Geistlichen die Religion verachten, wird sich die Bewegung verstärken; die Kraft des religiösen Gefühls in dem Volke wird sich dann durch die Nachwirkung vermindern. Die russische Kirche befindet sich vor einer gefährlichen Krisis; ihr Bestehen hängt von einer Reform ab. Aber woher soll diese Reform kommen?

Bei der katholischen Kirche bildet ein Land nur einen organischen Teil der ganzen katholischen Welt; jeder Unzufriedene, welchen Standes er auch sei, findet stets in seinem Bereiche Elemente einer Reform, die unter der Thätigkeit des katholischen Lebens sich verbinden können und, wenn sie auch die Krisis nicht aufzuhalten vermögen, so können sie doch ein Erheben vorbereiten.

Wenn die Krisis über die russische Kirche hereinbricht, so wäre dies wohl ein geeigneter Zeitpunkt, sich mit der römischen Kirche wieder zu vereinigen.

Das Aufsaugen der georgischen Kirche bietet keine sonderliche Schwierigkeiten, und man kann es schon jetzt als feststehende Thatsache betrachten. Denn diese Kirche hat niemals so viel Leben gezeigt, daß sie sich mit der mächtigen armenischen Kirche vergleichen ließe.

Die meisten Schwierigkeiten kommen von dieser her. Die Armenier wollen sich wohl auf die Russen stützen, aber nur um ihre Nationalität zu wahren, nicht um in Rußland gänzlich aufzugehen. Kirche und Nationalität sind ihnen unzertrennliche Begriffe, beides wollen sie unberührt erhalten. Jemand sagte uns: „Die Armenier werden für Rußland eines Tages die Polen des Südens sein!“

Überhaupt ist die Thätigkeit Rußlands nicht Wert, mit der Englands verglichen zu werden. Sie macht den Eindruck einer Zwitterbildung: mit alten Gebräuchen des orientalischen Despotismus sind unsere bureaukratischen Manieren vermischt worden. Das Ganze vermag dem Reisenden wenig Begeisterung einzuflößen. Denn wenn einmal die Zeit der heldenmütigen Eroberung verschwunden ist, fehlt der Zauber, der jedem Werke durch die lebendige und persönliche Thätigkeit der Menschen, die zu der Eroberung beigetragen haben, verliehen wird. Nichtsdestoweniger darf man aber doch nicht außer acht lassen, daß angesichts einer solchen Eroberung Rußland als eine gefürchtete Macht erscheinen muß.

Sein abgehärtetes Volk, das mit der Muttermilch die Verehrung des Zaren einsaugt, liefert kriegstüchtige und fanatische Soldaten. Der Russe verbirgt unter einem europäischen Firnis rohe Gewohnheiten, woran teils der Mangel an Unterricht, dann aber auch der stete Kampf gegen das unwirtliche Klima schuld ist. Zu

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/96&oldid=- (Version vom 1.8.2018)