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Nach den „Martyrern“ kommen Rotten, die dicke Knüttel in den Händen schwingen und dabei greuliche Flüche ausstoßen; mit ihnen zugleich erscheinen die Büßer. Der eine und andere von diesen ist halb entkleidet und zerreißt sich den Rücken mit Ketten, an denen sich Haken befinden. Die andern der Büßer haben nur die Brust entblößt und schlagen sich fortwährend mit der rechten Haust gegen dieselbe, indem sie das nämliche Gebrüll erschallen lassen wie die Martyrer. Dabei zeigen sie eine solche Ausdauer, daß sie schließlich im stande sind, sich die Haut vollständig von der Brust abzuziehen.

Der erste Teil des Umzuges ist beendet. Es folgt jetzt die symbolische Prozession: Puppen stellen die Opfer von Kerbela dar, ebenso folgen Darstellungen der Gräber u. s. w.

Beim Erscheinen dieser Prozession verdoppelt sich der Fanatismus. Mehrere der unglücklichen Martyrer fallen vor Erschöpfung nieder. Alle Anwesende, die Männer nicht ausgenommen, begrüßen diesen Aufzug mit einem schrecklichen Wimmern. Es ist leider nur möglich, dem Leser ein schwaches Bild der Wirklichkeit zu liefern, denn dieses Schauspiel spottet jeder Beschreibung. Ohne Übertreibung kann ich versichern, daß auch die Erinnerung daran mich noch lange Zeit wie ein Schreckbild verfolgt hat.

Welche Gegensätze! Wenden wir unsere Blicke einen Augenblick weg, so sehen wir vor uns die großartige Ruhe des Ararat. Dort ist alles Schönheit, Anmut und Erhebung für den Geist. Plötzlich werden wir durch neues Gebrüll auf diese bluttriefenden Fanatiker aufmerksam gemacht. Welch fremdartige Gegensätze zwischen der sündigen Menschheit hier und dem erhabenen Werke Gottes!

Nachdem der Umzug beendet war, lud Rahim-Khan uns ein, in der Mitte des Platzes niederzusitzen, nahe bei dem Zelte seines Oheims, des Ehren-Khans von Nakhitschewan, der General in der russischen Armee ist.

Auf dem Platze sollte nun eine dramatische Darstellung des Todes Husseins vor sich gehen. Aber die aufgeregte Menge beherrschte den Platz. Der Polizeichef war ein Armenier, und die Mohammedaner waren aufgebracht darüber, daß ein Armenier, der doch einem früher unterdrückten Volke angehört, ihnen befehlen darf. Zugleich wurden sie wütend, auf dem Ehrenplatz eine gewisse Anzahl „Hunde“, welcher Titel uns verliehen ward, zu sehen. Deshalb pfiffen sie den Polizeichef aus. Dieser ist der Menge gegenüber machtlos, weshalb die Vorstellung nicht beendet werden konnte.

Dieser arme Polizeichef! Vom Anfang des Festes an hatte er uns bemerkt, jetzt aber kam er zu uns. „Sie reisen ja noch nicht ab!“ redete er uns an. Wir erklärten ihm zunächst unsern Unfall, und zu derselben Zeit gaben wir ihm auch die Versicherung, daß wir bleiben wollten. Wir waren dabei im Vorteil, denn durch das Überwachen der Menge war er so angestrengt, daß keine Gefahr vorlag, der Polizeichef werde uns mit Gewalt fortschaffen. Aber jeden Augenblick sahen wir ihn trostlose Blicke nach unserer Seite werfen. Um seine Angst abzukürzen, trafen wir endlich Anstalten zur Abreise.

Es war uns genug, diese Szenen gesehen zu haben; aber der Schrecken! Es scheint, wenn man nach den Berichten älterer Reisebeschreiber urteilt, daß diese Zeremonien früher nicht so blutig waren. Waren wir nun Zeugen des Wiederauflebens

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/77&oldid=- (Version vom 5.5.2019)