Seite:Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen.pdf/76

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Wie in der römischen Kampagne die Kuppel der St. Peterskirche, je weiter man sich entfernt, an Größe scheinbar zunimmt, so geht es auch mit dem Ararat; je größer die Entfernung ist, um so mehr verschmelzen die Umrisse, und um so mehr macht sich seine Größe geltend.

Nachdem wir lange das herrliche Landschaftsbild betrachtet hatten, begaben wir uns zu dem Platze, wo der Umzug stattfinden sollte.

Dieser viereckige Platz ist mit Säumen bepflanzt. Eine Seite desselben erhebt sich in natürlichen Abstufungen, während zwei andere Seiten von dem Turm und dem Palast Rahims begrenzt werden. Die vierte Seite ist mit Häusern eingefaßt.

Wir kletterten auf die Terrasse eines dieser Häuser; vor uns war alles, selbst die Dächer der Häuser, mit einer bunten Menge bedeckt. Schleier und Kleider in allen möglichen Farben waren zu sehen. Von dem herrlichen Wetter begünstigt, begann der Zug.

Der kleine und der große Ararat von Nakhitschewan aus gesehen.

Mit bloßen Worten läßt sich das Grauenhafte dieser Szene nicht beschreiben. Jedes Dorf der Umgegend zieht der Reihe nach um den Platz. Die „Märtyrer“ sind mit langen weißen Gewändern bekleidet; ihr Kopf ist frisch rasiert. Mit der linken Hand bilden sie eine Kette, während sie in der freien rechten Hand einen spitzen Säbel halten, der gegen das Gesicht gewendet ist. Mit diesen Säbeln schneiden sie sich in den Schädel und schreien dabei aus vollem Halse: „Wah Hussein, Schah Hussein! Hussein, Hassan!“ Es ist eine schreckliche Szene.

Das Blut fließt wirklich in Strömen und verhüllt die Gesichter, so daß nichts weiter zu sehen ist als das weiße der Zähne bei sehr weit geöffnetem Munde. Der Anblick ist empörend, und es ist unbedingt erforderlich, daß der Zuschauer all seine Energie aufbietet, um dieses schreckliche Schauspiel noch weiter betrachten zu können.

In dem Maße, wie sich die Prozession entfaltet, steigert sich auch der Fanatismus, und die Unglücklichen ritzen sich die Haut in der schrecklichsten Weise, so daß das Blut auf ihre weißen Gewänder und den Boden herabfließt, wobei es von den Anwesenden mit wahrer Verehrung aufgefangen wird. Türkische Priester haben die Aufgabe, über die größten Fanatiker zu wachen, damit diese sich nicht wirklich umbringen. Wenn schon viel Blut geflossen ist, verbindet man den Kopf der am meisten Erschöpften; aber diese sind von dem Blute wirklich trunken und fangen oft ernstlichen Streit mit denen an, die sie am Selbstzerfleischen verhindern, und kaum sehen sie sich ungehindert, als sie auch wieder ihr höllisches Werk von neuem beginnen. Kleine Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren begleiten diese Rotten und üben sich bei diesem „Feste“ zum ersten Mal in den Waffen.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/76&oldid=- (Version vom 1.8.2018)