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der Nation zu sichern. Sieger und Besiegte hatten also gleiches Interesse daran, die Macht der Patriarchen zu vermehren. Auf diese Weise wurden die Patriarchen sowohl politische als auch religiöse Oberhäupter ihrer Nationen, so daß ihnen in dem innern, sozialen Leben ihrer Völker nichts entgeht. Heiraten, Testamente, selbst Verträge unterstehen ihrer Jurisdiktion. Dieses erklärt auch die Macht dieses nationalen Loyalismus, den der Orientale so eifersüchtig hütet.

Dieser Stand der Dinge hat auch wohlthätig auf die Schwäche der Patriarchen in Hinsicht auf das religiöse Gebiet eingewirkt. Da sie eine so bedeutende Rolle in den bürgerlichen Angelegenheiten spielten, so mußten sie auch notwendigerweise den Großen ihrer Nation Rechnung tragen. Diese aber hatten durchaus keine Absicht, sich alles Mögliche vorschreiben zu lassen, und so entstanden bei den Chaldäern die Saura und bei den Armeniern die Eretsphokhan, große Inquisitoren-Institute der Laien.

Wenn auch dieses Übergewicht der Laien bei den Katholiken verdrängt ist, so spielt es doch heute noch eine sehr große Rolle. In Mosul bezeichnet die Volksstimme zwei große chaldäische Familien, die durch ihre Rivalität das Aufhören des Schismas Mellus’ verhindert haben.

Der Reisende, der durch den Orient kommt, bemerkt bald ein gewisses Mißtrauen zwischen Morgen- und Abendländern. Oft ist dieses ein Produkt der verletzten Eitelkeit; ich habe bereits erwähnt, wie diese Reibung im Oriente selbst entsteht. Im Abendlande, in Rom, haben die Bureaux – selbst die der päpstlichen Verwaltung sind davon nicht ausgenommen – die Gewohnheit, die Personen, mit denen sie verkehren, nicht sonderlich zu behandeln. Ein lateinischer Bischof wird sich gewöhnlich nichts daraus machen; aber ein orientalischer Bischof ist leicht gekränkt, da er überall die Absicht wittert, daß er gedemütigt werden soll. Daß er dadurch leicht mißtrauisch werden muß, liegt auf der Hand.

Zudem hat der Orientale Rom gegenüber sehr leicht die Besorgnis wegen der Disziplin. Inbezug auf die Dogmen macht der Orientale wenig Schwierigkeiten; aber sobald eine Frage der Disziplin entsteht, erwacht sein alter Instinkt; sein nationaler Loyalismus wird beunruhigt, und er fürchtet Eingriffe. Der weite Weg, die Sprache, die Sitten halten ihn von Rom entfernt; leicht kann ein Mißverständnis entstehen, das nur zu oft traurige Folgen hat. Zudem suchen die protestantischen Missionare in dem Volke die Meinung zu verbreiten, daß Rom nur einen Zweck hat: nämlich bis zum Ende der Zeiten alles zu verschlingen, zu absorbieren und einförmig zu machen. Zu diesem Zwecke zitieren sie irgend einen Text oder irgend eine Idee des einen oder andern lateinischen Zeloten, der mit den Verhältnissen des Orients unbekannt war. Es genügt dies, um den Samen der Zwietracht zu säen, und gegenwärtig besteht eine der schwierigsten und zugleich der wichtigsten Angelegenheiten darin, den Orientalen von der Redlichkeit des Heiligen Stuhles zu überzeugen.

Um die Union zwischen dem Orient und Rom zu befestigen, haben die Päpste seit langer Zeit das Kollegium der Propaganda den jungen orientalischen Seminaristen geöffnet. Ich habe das Resultat dieser Methode sehr verschieden beurteilen gehört. Viele Orientalen kehren von Rom zurück, mit wahrer Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl erfüllt; viele andere scheinen aus ihrem Aufenthalte in Rom nur

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Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/309&oldid=- (Version vom 1.8.2018)