Seite:Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen.pdf/302

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Alle diese Schismen, alle diese Streitigkeiten werfen ein ungünstigesLicht auf die Orientalen, und wir sind nur zu sehr geneigt, dieselben deswegen zu verurteilen.

Wir Abendländer sind stolz auf unsere Zivilisation, stolz auf unsern Charakter und die durch die christlichen Institutionen eingeführte, auf die Freiheit gestützte würde in unseren Sitten. Dieser Stolz ist ja berechtigt, so lange er nicht ein Hochmut des Vergleichens wird. Leider vergleichen wir die Christen des Orients zu oft mit uns und sehen sie von oben herab an. Wir müssen uns an das Unrecht erinnern, das die orientalischen Kirchen schon vor der mohammedanischen Ära betroffen hat, wir müssen uns ihre alte Neigung zum Schisma und zur Häresie vergegenwärtigen, um die Orientalen von heute richtig beurteilen zu können. Gewöhnlich aber vergessen wir, daß seit den Zeiten des Khalifen Omar dreizehn Jahrhunderte lang eine schwere, niederdrückende Hand auf dem Orient gelastet hat; wir vergessen ferner, daß die Schlacht zwischen Tours und Poitiers (wo der fränkische Major domus Karl Martell 732 die Araber schlug) Europa vor dem Islam zum ersten Mal gerettet hat, und daß die Mauern Wiens (1683) auch den letzten Anstoß der asiatischen Horden abgewehrt haben, der ganze Orient dagegen die bestimmte Beute der Eroberer wurde. Diese hatten dort ein gelobtes Land gefunden, wo sie ihre Begehrlichkeit stillen konnten; von dort aus suchten sie Europa zu unterjochen, aber ihr Anlauf wurde zurückgeschlagen; sie waren nicht mehr die wilden Horden, die geradenwegs aus der Wüste kamen; so schrecklich sie auch noch immerhin waren, so hatten sie sich doch schon mehr an ein ruhiges Leben gewöhnt und ihre erste Energie eingebüßt. Der Mut der Franken hat den Sieg über sie auf dem Schlachtfelde davongetragen; aber dies ist gerade für den Orient der Grund des Ruins geworden, weil sich hier seine Unterjocher behaupten konnten. So wurde der Orient der Sklave und Weideplatz des Mohammedanismus, gleichsam der Preis für die Freiheit Europas.

Die arabischen oder türkischen Eroberer erkannten oft die Nützlichkeit und selbst die Notwendigkeit eines toleranten Verhaltens gegen die Christen. Mit diesem Gedanken hängt die offizielle Anerkennung verschiedener christlichen Kirchen und die ihren Häuptern bewilligte Machtvollkommenheit zusammen.[1] Aber in allen

  1. „Was Heiraten, Erbfolge, testamentarische Bestimmungen, Streitigkeiten zwischen einzelnen betrifft, so können die Chaldäer dies alles ohne Dazwischentreten der türkischen Obrigkeit erledigen; sie machen solche Angelegenheiten vor ihren Priestern und einigen Ältesten ihrer Nation aus; sie nehmen Zeugen oder fertigen ein Schriftstück aus, unter das verschiedene Personen ihr Siegel setzen, und die Sache ist damit beendet. Im Falle der Notwendigkeit prüft das türkische Gouvernement diesen Vertrag, so daß es sich, wenn alles in Ordnung ist, aber auch nicht weiter darum kümmert; ist dieses aber nicht der Fall, so mischt sich die Regierung in die Sache und immer zum Schaden der beiden Parteien.“ (Mgr. Coupperie, Notice sur les Chaldéens, Prop. de la Foi V. 564)
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/302&oldid=- (Version vom 1.8.2018)