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Die zahlreichste christliche Gemeinschaft ist die chaldäische.[1]

Die chaldäische Kirche existierte schon gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts. Sie hatte das Evangelium von Antiochia empfangen, und ihr Oberhaupt, der in Seleucia wohnte, wurde infolgedessen als ein Vasall des Patriarchen von Antiochia betrachtet. Es war im übrigen eine wirkliche Nationalkirche, die Kirche der Christen des Königsreichs Persien. Etwas geduldet von den parthischen Königen, wurde sie oft von den Sassaniden verfolgt. Die Beziehungen zu Antiochia wurden darum auch immer schwieriger. Als gegen das Ende des fünften Jahrhunderts die Nestorianer geächtet und aus dem römischen Kaiserreiche vertrieben wurden, flüchteten sie bis über die persische Grenze. Da die Beziehungen zwischen Seleucia und Antiochia gelockert waren, hielt es für die Nestorianer nicht schwer, ihre Lehre innerhalb der chaldäischen Kirche zu verbreiten, und der Nestorianismus kam dazu, gleichsam die Nationalreligion für die Christen des Sassanidenreiches zu werden.

Dieser Umstand, der eine religiöse Scheidewand zwischen ihnen und Rom bildete, sicherte ihnen gleichzeitig seitens der persischen Könige eine größere Duldung; diese günstige Wendung benutzten sie und gründeten überall Kirchen, sogar bis nach China hin, wovon man heute noch hier und da einige Spuren findet. Ihre Gründungen in Malabar haben sich bis in unsere Zeit erhalten.

Als die türkische Einwanderung den Thron der Sassaniden zerstörte, zeigten sich die Khalifen zunächst den Nestorianern günstig.[2]

Aber die Einmischung der Khalifen in die inneren Angelegenheiten der Kirche, die Simonie, wodurch das Patriarchat an den Meistbietenden verkauft wird, die schrecklichen Kriege, die jene Gegenden verwüsteten, führten bald den Verfall herbei. Die Nestorianer mußten die Ebenen von Mesopotamien verlassen und ihren Mittelpunkt in die unzugänglichen Teile der Gebirge verlegen.

Da die nestorianische Kirche materiell und moralisch von der katholischen Gemeinschaft getrennt und auf sich allein angewiesen ist, droht ihr der völlige Ruin. Es scheint, daß ihre Patriarchen[3] die Notwendigkeit einsehen, zur katholischen Gemeinschaft

  1. Die syrische Bevölkerung Mosuls und seiner Umgebung verteilt sich ungefähr folgendermaßen:
    Mosul Umgegend Zusammen
    Katholische Syrer 2000 2150 4150
    Jakobitische Syrer 2000 1300 3300
    4000 3450 7450

    Die chaldäische Bevölkerung war bei unserer Reise folgendermaßen verteilt :

    Mosul Umgegend Zusammen
    Chaldäische Katholiken 2000 9400 11400
    Dissidenten (Schisma des Mellus) 250 1200 1450
    2250 10600 12850

    Die Dissidenten sind bald darauf alle zur katholischen Kirche zurückgekehrt.

  2. Die Nestorianer genossen einige Zeit bei den Khalifen große Gunst; dies hat vielleicht seinen Grund in dem Einfluß, den die nestorianischen Lehren auf Mohammed ausübten, als er den Koran verfaßte. (Boré, Corr. II. 219 ff).
  3. Der Chef der chaldäischen Kirche ist als Chef einer Nationalkirche ein Katholikos; aber er ist kein Patriarch, da er durchaus nicht der Nachfolger des Patriarchen von Antiochia ist, dessen Vasall er früher immer war. Der Gebrauch jedoch hat den Titel Patriarch eingeführt, und dieser Gebrauch ist allgemein angenommen worden.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/299&oldid=- (Version vom 1.8.2018)