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ist, ihn mit Eisen anzuschneiden. Es finden sich daselbst Tempel, weite Gemächer, besondere Orte zur Aufbewahrung der Schätze, unermeßliche unterirdische Räume; man sieht daselbst eine Menge Inschriften, die schon allein ein Gegenstand der Bewunderung sind. Es scheint, daß man, um diese Inschriften aufzuzeichnen, das Geheimnis gekannt hat, den Stein so weich wie Wachs zu machen.

Semiramis ließ auch Säulen zu ihrer Ehre errichten und sie in vielen Orten Armeniens aufstellen.[1]

Arme Semiramis! Nicht bloß ihre wunderbaren Bauwerke, die sie soll errichtet haben, sind verschwunden, sondern auch sie selbst, indem sie von der unerbittlichen Geschichtsforschung ihres Nimbus beraubt wurde, ist endgiltig in das Reich der Sage verwiesen worden.

Den Königen Sarduris, Minuas und Argistis, deren Namen die Inschriften tragen, ist ohne Zweifel das Verdienst der Bauwerke, die Moses von Chorene beschreibt, zuzumessen, wenn man es überhaupt ein Verdienst nennen kann, Tausende von Menschen bei dem Baue der Paläste aufzuopfern, wie dies bei den „großen Königen“ Gewohnheit war.

Der Geschichtsschreiber hat zweifellos viel Poesie in seine Erzählung verwoben; indes geht doch daraus hervor, daß zu seiner Zeit die Ruinen der königlichen Bauwerke noch beträchtlich und gut erhalten waren; mit Recht konnten sie für ein Wunderwerk gelten, denn die in dem Kalkstein der Festung ausgeführten Arbeiten waren mit unerhörten Anstrengungen verbunden.

Was die eigentliche Stadt angeht, so ist es ganz natürlich, daß nach wenigen Jahrhunderten nichts mehr davon übrig war, da die Häuser ganz bestimmt in die Erde gebaut waren.

Die Zerstörung der Mauern der Zitadelle und der andern königlichen Bauwerke schreibt die Tradition Timur-lang zu, der im Zorn über den verzweifelten Widerstand Wans 1392 sich eifrig daran machte, eine Schicht nach der andern zu beseitigen, deren Festigkeit die Wut des Zerstörers gereizt hatte.

Von da an gehörte die Zitadelle fast immer den Paschas als Erbgut, die durch einen Firman der Pforte mit derselben belehnt wurden, und die namentlich von dem Pascha von Erserum abhängig waren. Infolge einer offenen Empörung des Paschas von Wan 1831 wurde die Erblichkeit aufgehoben, und die Pforte unterstellte das Land ihrer unmittelbaren Regierung.

Kehren wir nun zu dem Hauptfestungswerk zurück! Es schließt eine kleine Moschee ein, deren Minaret einen wunderschönen Aussichtspunkt bildet; von dieser Stelle aus kann man sich genaue Rechenschaft über die Gestaltung der Gegend geben.

Die Festung liegt gänzlich isoliert inmitten der Ebene; zu unsern Füßen sehen wir, wie auf dem Boden eines Abgrundes, die Häuser von Wan; weiter gegen Osten zu bietet sich dem Auge das Grün der „Gärten.“

Wan nimmt den äußersten nördlichen Punkt einer großen Ebene ein, die durch einen Halbkreis von Bergen geschützt ist. Dieser Halbkreis beginnt ungefähr zwei

  1. Freie Übersetzung des Moses von Chorene. Vivien de Saint-Martin: „Notice sur Schulz“. Seite 3. Vergl. Mosis Choremensis „Historia Armen“. L. I. c. p. 43 ff. Edition Whinton. Beim Lesen des ganzen Textes sieht man klar, daß es sich um die Festung Wan handelt.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/197&oldid=- (Version vom 1.8.2018)